_345_ Dankbarkeitstheater
Dankbarkeit wurde mir us verschiedensten Richtungen anempfohlen; als Kunstgriff, um Kontrolle über den eigenen Gefühlshaushalt zu erlangen. Neulich konnte man das bei A.J. Jacobs lesen. (Dieser ist bekannt als Buchautor, der über eigenartige Selbstexperimente berichtet.) Er brachte eine interessante materialistische Wendung ein, so dass ich es übersetze:
Wenn du konkrete Maßnahmen ergreifst – beispielsweise dich dazu zwingst, Dankeskarten zu schreiben –, wirst du oft feststellen, dass sich deine Stimmung entsprechend diesen Maßnahmen ändert. [D.h. Man wird dankbar. ...] Das habe ich für ein Buch über Dankbarkeit getan, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe. Ich bin um die Welt gereist und habe mich bei tausend Menschen bedankt, die etwas mit meiner morgendlichen Tasse Kaffee zu tun hatten, von den Bauern in Südamerika bis zum Barista im Café um die Ecke. […] Ich wachte mit meiner üblichen mürrischen Laune auf, zwang mich aber, so zu tun, als wäre ich dankbar. Ich zwang mich, E-Mails an den Designer meiner Kaffeetasse zu schreiben. Oder ich rief die Frau an, die für die Schädlingsbekämpfung in dem Lagerhaus zuständig war, in dem meine Kaffeebohnen gelagert wurden. „Ich weiß, das klingt vielleicht seltsam, aber ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie die Insekten von meinem Kaffee fernhalten.“ Darauf antwortete sie: „Das ist seltsam. Aber danke. In meinem Beruf bekomme ich nicht viel Anerkennung.“ Und nach ein paar Minuten dieser erzwungenen Dankbarkeit begann ich, mich wirklich dankbar zu fühlen. […] Es ist einfacher, sich in eine neue Denkweise hineinzutheatern, als sich in eine neue Handlungsweise hineinzudenken.
Heute ist die Sonne über Wien um 7:38 aufgegangen. Dies war der 345. Second Sunrise, eine persönliche Notiz zu Kaffee und Alltagskultur.
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