Die Weiße Magie des Schwarzen Auges
Abstract
Dieser Artikel spürt dem Pen&Paper-Rollenspiel mediengenealogisch nach als einer Erzählpraxis, die im Kontext des literarischen Fantasy-Genres, digitaler Technologien und des Brettspiel-Vertriebs entsteht und in redaktioneller Steuerung einen common playground schafft, der asynchron von verschiedenen Spielgruppen bereist wird. Die Spielerschaft von Das Schwarze Auge blickt selbst wiederum in Herausgabe einer Schachtel auf seine 40-jährige Geschichte zurück. Sie eignet sich vortrefflich, um zu zeigen, wie der Aushandlungsprozess über ein authentisches Spielgefühl formatiert wird. In den Blick gerät dadurch eine Lektüre, die ludisches Lesen genannt werden könnte, das im kulturtechnischen Übergang vom Blättern zum Nachschlagen genuin spielerische Modi der Rezeption hervorbringt.
Keywords
Kulturtechnikforschung, Rollenspiel, Anschaulichkeit, Bürokratie, Ludologie
Pen&Paper vs. Bytes&Pixel
In den gängigen Fortschrittsfabeln, die von einer kontinuierlichen Verbesserung der Rechenkapazitäten und damit der Visualisierungsleistung von Computerspielen ausgehen, ist das Tischrollenspiel gewissermaßen ein Skelett: Auf den ersten Blick ein Kuriosum okkulter Praktiken, beheimatet in Kellern und Garagen, wo Nerds Bubenträumen mit ihren bescheidenen Mitteln nachhängen; zugleich ein kompliziertes und knochentrockenes Grundgerüst einer virtuellen Welt-Simulation. Mit aufwändigem Graphikdesign dekoriert ist es leichter verdaulich und so einer breiteren Spielerschaft zugänglich. Es bildet immer noch die Grundlage vieler erfolgreicher Computerspiel-Titel: Baldur’s Gate 3[1] etwa bedient sich der 5. Regeledition von Dungeons & Dragons (D&D)[2], das ohne mitgelieferte Spielwelt auch als d20-System[3] bezeichnet wird, wegen des prominent eingesetzten zwanzigseitigen Würfels. Auch die ersten beiden Baldur’s Gate-Titel griffen auf frühere Versionen des allerersten papierbasierten Rollenspiels zurück. Dessen Regel-Grundgerüst erscheint als low-tech Spiel-Engine, die Fantasy-Narrative mit einer Graphik-Engine zu einem Videospiel koppelt.
Große Aufmerksamkeit erregten Computer-Rollenspiele durch den bahnbrechenden Erfolg von World of Warcraft, das auch als Kultur-Phänomen in das Bewusstsein weniger Spiel-affiner Beobachter*innen drang. Frühere Baldur’s Gate-Spiele waren vorher schon beliebte role playing game (RPG)-Adaptionen, deren Erfolg noch auf den nicht notwendigerweise vernetzten Heim-PCs nicht so breites öffentliches Aufsehen erregte.[4] Im Gegensatz zu den früheren Spielen wird heute das Werfen von Würfeln visualisiert (Abb. 1).[5] Das Computerprogramm simuliert so eine Szene des Geschehens am Spieltisch und vertritt ein grundsätzlich anderes Konzept von Immersion: Spieler*innen übernehmen so nicht Heldenrollen, durch deren Haut sie in Kontakt mit der fingierten Welt stehen; vielmehr sind sie Teilnehmer*innen einer Spielrunde, die strategische Entscheidungen für diesen Charakter treffen und zugleich beobachten, wie die Umgebung auf diese reagiert.
Der Würfelwurf ist pragmatisch betrachtet ein recht handlicher Zufallsgenerator, der die Risiken des heldenhaften Handelns kalkulierbar macht und damit die kollektive Erzählung plausibilisiert. Wie ein Türstopper hält er kausale Folgerungen offen und garantiert der Spielrunde das Gefühl von Kontingenz. Das konnte ohne weiters in Computerspielen verborgen werden: Das Programm berechnete die regeltechnischen Auswirkungen im Hintergrund, während visuelle Effekte diese veranschaulichen. Es zählten die ausgegebenen Bilder des Geschehens in der Ansicht des Spiels: Ein Feuerball explodiert von Zauberhand und setzt Gegner in Brand, während vielleicht unklar bleibt, wieviel Schadenspunkte ein solcher Zug verursacht. Papierbasiert, wäre dies am Tisch ausgewürfelt und entsprechend notiert worden. Die Regelkundigen konnten die Ergebnisse der automatisch ablaufenden Randomisierungen in einem Protokoll zwar nachlesen, doch gab es noch keine Inszenierung dieser zahlreichen Momente einer Überschreitung des Rubikons, die das laufende Würfeln am Spieltisch produziert.[6]
Nun im aktuellen Baldur’s Gate 3 der 2020er-Jahre lösen Spieler*innen den Wurf des Ikosaeders selbst aus, beobachten die rollende Bewegung eines 3D-Modells und die Verrechnung anfallender Modifikationen, so dass das Würfeln als allegorisches Moment schicksalshafter Entscheidung nochmals vor Augen geführt ist. Einerseits bildet dies eine historische Entwicklung ab: dem ursprünglichen Spiel wird vielleicht nun mehr Anerkennung gezollt, weil viele Computerspieler*innen den Reiz des visuell ärmeren Tischrollenspiels über den Umweg der Bildschirme nachspüren. Andererseits ist geradezu klassisch die Theorie der Remediation vorgeführt.[7] Dieser zufolge schaffen neuere Medien nicht einfach nur ältere Papierspiele ab und ersetzen sie, sondern die mediale Darstellung pendelt laufend zwischen Hypermedialität und Unmittelbarkeit. Am Ende stehen ästhetische Lösungen, die ostentativ Elemente des papiernen Vorgängers einarbeitet. Diese mögen verfremdende Effekte mit sich bringen: Tabellen, Zahlenwerte, Inventarlisten sind ja nicht übliche Bestandteile einer epischen Erzählung. Dabei arbeiten sie dialektisch mit an einer Vorstellung unmittelbarerer und damit überlegener visueller Vermittlung durch das Videospiel-Programm.
Im Folgenden soll daher das breite Genre RPG mitsamt der zugehörigen Fantasy-Gattung mediengenealogisch historisiert werden. Das zielt auf eine Gegenwartskritik ab, wobei es „weniger um die inneren Gesetzmäßigkeiten der Einzelmedien und ihrer jeweiligen Kulturen“ geht, sondern um die Frage „nach der Digitalisierung unserer Kultur, indem sie Medien nicht bloß als rein technische Apparate, sondern als Schauplatz für individuelle und soziale Praxen, für Lebensweisen, kulturelle Muster, Wissen, Macht und Herrschaft betrachtet.“[8] In Bezug auf die Entwicklung des Rollenspiels bedeutet dies den Prozess der Ludifizierung eines literarischen Genres zu verstehen. Anhand abseitigerer Beispiele, wie das deutsche Das Schwarze Auge (DSA) lässt sich dieser Prozess besonders gut ablesen. In seiner Abgrenzung von D&D treten kulturelle Differenzen in Bezug auf diese untersuchten Wahrheitsspiele besonders deutlich zutage. Das lässt zum Schluss noch eine allgemeine Reflexion zu, aus der sich eine ludische Art zu Lesen konzipieren lässt. Typisch für unsere digitale Gegenwart, liest man auf diese Weise nicht eine epische Erzählung von Anfang bis Ende, sondern permutiert laufend die Konfigurationen, aus denen sich das Geschehen ergibt: Ludisches Lesen beschreibt die regelgeleitete, kollektive Konstruktion eines Narrativs basierend auf den Möglichkeiten, die der Buchform zu Grunde liegen. Mittels bürokratischer Arbeit wird der fiktionale Gehalt aus dem Papier quasi extrahiert und am Spieltisch verbalisiert. Das hinterfragt die gängige Annahme, dass traditionelle Erzählformen erst durch jüngst verfügbare, ‚digitale’ Computertechnologie variiert werden. Die Innovationen in der spielerischen Genese fantastischer Geschichten jenseits der Dichotomie von Autor*innen und Lesenden sind schon in den ganz alten Papiermedien antizipiert und verbreitet worden; historisch entstehen sie durch Nachschlagen in, sowie im Blättern und Stapeln von Büchern.
Weiße Magie: Schriftbildlichkeit der Fantasy-Gattung
In Büros wird noch lange nicht papierlos gearbeitet; Regale sind weiterhin in Verwendung, denn die Buchbestände sind nicht zur Gänze in E-Book-Datenbanken aufgegangen. Ebensowenig ist Papier aus dem Rollenspiel-Genre verschwunden. Es ist dort nach wie vor allgegenwärtig und birgt – so darf nach diesen einleitenden Betrachtungen vermutet werden – als Spielmaterial einen besonderen Reiz. Lothar Müller zufolge ist die Epoche des Papiers noch nicht zu Ende, denn es wirkt still im Gegensatz zu lauten medientechnologischen Revolutionen. Sowohl Buchdruck als auch unser digitaler Alltag sind auf Papier angewiesen.[9] Weiße Magie ist im Gegensatz zur Schwarzen Kunst mit weniger medienhistorischer Aufmerksamkeit bedacht. Dabei existieren hochangesehene Kulturen des Spiels, die man papierbasiert nennen könnte: Scherenschnitte und Collagen, Origami und Papierflieger, „Schifferl versenken” und eben auch das Charakterdatenblatt eines Pen&Paper-Rollenspiels.
Hierbei wird es schwierig, eine eindeutige Grenze zwischen dem Trägermaterial und den darauf angebrachten Zeichen zu ziehen. Sybille Krämer begreift dieses Phänomen als Schriftbildlichkeit.[10] Texte bilden auf der weißen Hintergrundfläche des Papiers selbst ein Bild; Texturen, die im schlechtesten Fall als „Bleiwüsten” bezeichnet werden, weil deren Lektüre als Entbehrung anmutet. Philipp Felsch entwickelt so (auf die Materialität der hergestellten Bücher schielend) entlang der Geschichte des Merve-Verlags eine Gattungsgeschichte der Theorie. Die billige Produktion im Taschenbuchformat unterstützt die weitreichende Verbreitung der so artikulierten Ideen über gesellschaftliche Transformationen. Selbst gänzlich unanschaulich entsteht in zweiter Ordnung eine Anschaulichkeit der theoretischen Praxis.[11]
Im Zentrum der hier geschilderten Betrachtung steht DSA paradigmatisch für diese Ludifizierung papierbasierter Literatur. Das Pen&Paper-Rollenspiel ist besonders in der Ausprägung des frühen DSA geradezu ein Fest der kargen Bürokratie, das dieser Tage unfreiwillig komisch anmutet: man trägt seine Werte in ein „Dokument der Stärke” ein; der Spielleiter übersieht den Spielverlauf mit dem „Plan des Schicksals” und führt „Kampfprotokolle”. Dieses Nebeneinander epischen Geschehens und bürokratischer Verwaltung ist bereits David Graeber aufgefallen. Er erklärt es in Utopia of Rules anthropologisch, als Widerspruch von frühen urbanen Gesellschaften, in denen Bürokratie entsteht und jenen heroischen Kulturen, die an den naturbelassenen Rändern expansiver Imperien fortdauern. Deren Leben ist nicht dokumentiert, mangels eines konsistenten Zeichensystems, besteht dafür aber in Mythologien bis in unsere Tage fort. „I think part of the answer is that heroic societies are, effectively, social orders designed to generate stories.“[18] Er kennzeichnet Fantasy-Literatur („Sword & Sorcery“) grob als Erbe der Jahrtausende überdauernden Praxis bürokratischer Kulturen, in Märchenwelten die Unwägbarkeiten des Lebens außerhalb des eigenen verwaltbaren Erfahrungshorizonts zu reflektieren:
These books are not just appealing because they create endless daydream material for the inhabitants of bureaucratic societies. Above all, they appeal because they continue to provide a systematic negation of everything bureaucracy stands for. Just as Medieval clerics and magicians liked to fantasize about a radiant celestial administrative system, so do we, now, fantasize about the adventures of Medieval clerics and mages, existing in a world in which every aspect of bureaucratic existence has been carefully stripped away.[21]
Dies stimmt überein mit dem literaturgeschichtlichen Forschungsstand über Fantasy, den Christine Lötscher zusammenfasst. Sie hält einem vorschnellen Aburteilen dieser Gattung als infantil, chauvinistisch und reaktionär entgegen, dass dieses Genre sich über den Tolkien’schen Begriff der Mythopoesie definieren lässt.[23] Das meint „ein spielerisches und poetisches Ausloten der Möglichkeiten mythischer und fantastischer Traditionen im Roman. Dieser Impetus ist genauso spekulativ wie jener der zukunftsgerichteten Science Fiction, auch wenn keine Zukunftsvisionen entworfen werden.” Diesem multiperspektivischen Erzählen und Schreiben werden die popularisierenden Filme und Serien meist nicht gerecht. Sie würdigen das Hauen und Stechen mit übermäßig viel Zeit würdigen, wofür bekannte Beispiele angeführt werden: Game of Thrones, Troja und die Herr-der-Ringe-Trilogie.
Peter Jackson streicht die wichtigste Figur […] aus seinem Drehbuch: den rätselhaften, mit dem Wald verflochtenen, ständig singenden und erzählenden Tom Bombadil. [… Er] verkörpert die Idee einer Form des Erzählens, eines spekulativen Fabulierens, bei der alle mitmachen dürfen – die Hobbits geraten in seinem Haus nämlich auch in einen fast psychedelischen Erzählflow –, das unter den vielfältigsten Wesen Gemeinschaft stiftet, sie füreinander sorgen und sie verstehen lässt, dass alles was lebt, miteinander verflochten ist.[15]
Diese Verflechtung hat Michael Ende in seinen Buch Die unendliche Geschichte im Schriftbild augenfällig gemacht: es ist zweifarbig.[16] Lesend erfährt man anfangs, dass der Protagonist (ein Schulkind namens Bastian) an ein Buch kommt, das exakt so aussieht wie das rote Buch, in dem man selbst liest, und auch denselben Titel trägt. Alles, was dort, in Phantásien geschieht, einem Land voller zauberhafter Kreaturen und Wendungen, ist in blauer Tinte gedruckt; die Absätze, die von Bastians Lektüre desselben Buchs berichten in rot. Hier erhält das Spiel miteinander verwobener Geschichten rein visuellen Ausdruck im Schriftbild.
Reglementierung: Spiele der Bürokratie
Zur gleichen Zeit wie dieser Erfolgsroman, im Jahr 1974, erschien D&D. Auch dieses bietet eine Reihe visueller Stützen, um noch viel technischer die Erzählmaschinerie in Gang zu setzen: Formulare, Protokolle, Tabellen, gerasterte Pläne, Dokumente. Graeber beschreibt diese paradoxe Bewegung der Bürokratisierung des antibürokratischen Fantasy-Genres wie folgt:
In many ways [D&D is] actually quite anarchistic, since unlike classic war games where one commands armies, we have what anarchists would call an “affinity group,” a band of individuals cooperating with a common purpose (a quest, or simply the desire to accumulate treasure and experience), with complementary abilities (fighter, cleric, magic-user, thief …), but no explicit chain of command. So the social relations are the very opposite of impersonal bureaucratic hierarchies. However, in another sense, D&D represents the ultimate bureaucratization of antibureaucratic fantasy. There are catalogs for everything: types of monsters […]; human abilities[…]; lists of spells […]; types of gods or demons; […] different sorts of armor and weapons; even ‘moral character’[…]. The books are distantly evocative of Medieval bestiaries and grimoires. But they are largely composed of statistics. All important qualities can be reduced to number. […] The numbers are in a sense a platform for crazy feats of the imagination, themselves a kind of poetic technology.[17]
Die bürokratische Verwaltung eines Antibürokratismus in Form des Fantasy-Genres werde vom Computer gewissermaßen vollendet. Diese informationstechnische Ludifizierung ist letztlich eine Beschränkung des erzählenden Ausdrucks und damit eine graphische Versiegelung des mythopoetischen Nährbodens. Rollenspielpraxis ist eng verwoben mit den alternativen Gesellschaftsentwürfen, die wir kollektiv zu machen im Stande sind. Ähnlich wie das Lesen in Büchern Individuen isoliert und der Gebrauch von Internettechnologien die Konnektivität steigert, produzieren Tischrollenspiele kleine, separierte Spielgemeinschaften. Massively Multiplayer Online Role-Playing Games wirken dafür expansiv und bilden communities weit über physische Distanzen und Grenzen hinaus; dabei adressieren sie jedoch reziprok – d.h. wie ein Buch die darin Lesenden – über das Computerinterface die Spieler*innen als vereinzelte Individuen. Welche kollektiven Umgangsformen mit Texten und Erzählungen werden von Papierrollenspielen nahegelegt, die dann das Design von Videospielen vorbereiten?
Doch bevor wir zu unserem Fallbeispiel voranschreiten, zuerst noch eine theoretische Marginalie, die Graebers Figur des Tischrollenspiels als Formalisierung antibürokratischen Fantasy-Genres nötig macht: Vermissen lässt er eine kritische, spielwissenschaftliche Analyse dieses von ihm als relevant markierten Sachverhalts, den er als Bürokratisierung beschreibt. Stattdessen ließe sich der Begriff der Ludifizierung in Stellung bringen: Gemäß Roger Caillois gibt es einen kontinuierlichen Übergang vom beliebigen Kinderspiel („paidia“) hin zum regelbasierten Spiel („ludus“).[19] Graeber aber setzt diese Prozesse auch prompt gleich: „Games, then, are a kind of utopia of rules.“[20] Im Vergleich zu Caillois ist seine Kritik an Johan Huizingas Homo ludens deutlich weniger differenziert. Sie beschränkt sich auf eine Fußnote und muss hier nicht weiter verkürzt werden, um sie wiederzugeben: Er konstatiert schlicht, dass diese kulturanthropologische Theorie nur „games“ betreffe, nicht aber „play“. Dabei ist Huizingas etymologische Auseinandersetzung mit genau diesem Spannungsfeld sehr umfassend und differenziert. Er argumentiert für die terminologische Versammlung augenscheinlich disparater Spielformen als aufschlussreiche Abstraktionsleistung: So etwa auch play und game in einem Wort wie Spiel.
Die Abstraktion eines Allgemeinbegriffs Spiel ist in der einen Kultur früher und vollständiger vollzogen worden als in der anderen, und dies hat zur Folge gehabt, daß es hoch entwickelte Sprachen gibt, die für die verschiedenen Formen des Spiels ganz verschiedene Wörter beibehalten haben, und daß diese Vielheit der Begriffsbezeichnungen der Zusammenfassung aller Formen von Spiel in einem einzigen Begriffswort im Wege stand. Dieser Fall läßt sich von weitem mit der bekannten Tatsache vergleichen, daß sogenannte primitive Sprachen zuweilen wohl Wörter für die verschiedenen Arten einer Gattung haben, aber für die Gattung im allgemeinen keine, zwar Wörter für Hecht und Aal, aber keins für Fisch.[^20]
[^20]:Huizinga: Homo Ludens. 2009, 38.
Graeber hält daher Hechte und Aale strikt auseinander und sieht so in play etwas Subversives, das per game unter Kontrolle gebracht wird: ein anarchisches, fantastisches Erzählen, das von einem verwaltenden Kalkül beschränkt wird. Letztlich tilgt das Spiel (game) spielerische Aktivität (playfulness) quasi kannibalisch. Gemäß Huizinga ist aber Spiel eine allgemeinere Gattung, die produktiv ist, gerade weil sie mehrere Aspekte der Kulturleistung in einem Begriff fassen kann. Daran anschließend kann man nun technischer nachfragen: Wie ist das mythopoetische Spiel der Fantasy-Schriftsteller*innen mit der bürokratischen Praxis, dem „game” der Rollenspieler*innen verschaltet? Durch welche visuellen Schnittstellen wird das eine in das andere überführt und kollektiv prozessiert?
Das Schwarze Auge: Meisterhafte Wissensverwaltung
Die Kaiser-Retro-Box erschien 2018 und heißt so, weil sie einerseits an die Anfangszeit von Das Schwarze Auge erinnert, das zum ersten Mal 1984 beim Schmidt-Spiele-Verlag in Kooperation mit Droemer-Knaur erschien – damals noch unter dem weitaus technischeren Namen Abenteuer-Basis-Spiel. So wie die Spielerschaft mit dem fiktiven Kontinent Aventurien vertraut gemacht wird, der in Erweiterungssets zu bestimmten Regionen immer detailreicher ausgearbeitet wird, führt dieses Pen&Paper-Rollenspiel auch eine eigene Zeitrechnung ein. Diese beginnt die Jahre (parallel zu irdischen Jahresläufen) mit der Regierungszeit des amtierenden Kaisers Hal zu zählen, dessen Jahr 1 zusammenfällt mit dem Erscheinen der ersten Ausgabe des Aventurischen Boten: Hierbei handelt es sich um ein Periodikum für die Spielgemeinschaft, das regelmäßig Stoff für die Tischrunden publizierte, in Form von Hintergründen über die Welt und Regelergänzungen. Kaiser Hal folgt in der Chronologie auf die Regentschaft Kaiser Retos (sic!), womit sich der Scherz erläutert, den man sich mit dem Titel der Neuauflage erlaubt hat.
Die DSA-Spielerschaft kann also auf eine mittlerweile 40-jährige Geschichte zurückblicken und dabei den Retro-Charme einer Anfangszeit beschwören: Mittlerweile spielt man in der 5. Regeledition, und auch in Aventurien wurden Grenzen neu gezogen, innerhalb derer Nicht-Spielercharaktere ein fiktives Dasein fristen, um den Kollektiven, die unabhängig voneinander Geschichten (nach-)erzählen, eine Rahmenhandlung zu geben. Auch wurden motivgeschichtliche Analysen mit akademischen Repertoire vorgelegt, die in Titel- und Covergestaltung das zur Zeit seines Erscheinens schon überholte DSA-Format persifliert.[22] Nicht nur Enthusiasten, die zeitweise mit all den Elfen, Zwergen, Orks, Drachen und Schwarzmagiern diese Fantasy-Spielwelt mit narrativen Mitteln bevölkern, sollten sich für diesen geschichtlichen Wandel interessieren. Denn man kann anhand der Veränderungen, die sich in den Bedingungen und Möglichkeiten der Vermarktung eines solchen Spiels abzeichnen, sehr viel mehr über die digitale Gegenwart erfahren, als die emphatische Romantisierung eines unmittelbaren Geschichtenerzählens vis-á-vis als Gegenentwurf zu Computerspielen vermuten lässt.
Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs und Ulrich Kiesow hatten anfänglich nicht den Anspruch ein eigenständiges Werk zu schaffen. Sie bekamen nur nicht die Rechte, um das von Gary Gygax und Dave Arnesson 1974 veröffentlichte D&D zu übersetzen und für den deutschen Markt vorzubereiten. Dieses hat bis heute eine Vorrangstellung als jenes Produkt, welches die Art und Weise des Erzählens durch ein Tischrollenspiel popularisierte: Von E.T. bis Stranger Things wird über die gesamte Dauer seiner Existenz Vielen ein Bild von gängiger D&D-Rollenspiel-Praxis vermittelt, die selbst damit nie in Berührung gekommen sind.
Im Vergleich zu den anglo-amerikanischen Vorlagen sind bei DSA auch kulturelle Eigenheiten festzustellen, die im Stil der Darstellungen Unterschiede und Abweichungen hervortreten lässt, die vor dem Hintergrund mit national- und literaturgeschichtlichen Traditionen besser zu verstehen sind. Augenfällig ist vor allem der detailreich ausgearbeitete Kontinent Aventurien, der mittlerweile in einer umfangreichen Bibliographie beschrieben und illustriert ist, die sich um historische Authentizität bemüht. Im Sinne einer glaubwürdigen Darstellung der frühneuzeitlichen Welt mit einigen mittelalterlichen Randbezirken werden entsprechende Klischees bedient, die Spieler*innen bei realweltlichen Genres anknüpfen lassen: Abenteuer aus dem Mantel-und-Degen-Genre, arabische Märchen, Arthus-Sagen und Wikinger-Mythen sind alle analog in einem Landstrich Aventuriens verortet. In regionaler Kohärenz dieser in maximaler Beliebigkeit zusammengestellten Spielwelt spiegelt sich das traditionsbewusstere Verständnis einer Nation mit alteuropäischer Geschichte. Man kann eigenständig Rückgriffe auf Märchen, Sagen und Mythologien tätigen; leichter in phantastischen Heterotopien visuelle und narrative Referenzen auf realweltliche Geschichte und Literatur machen. Währenddessen sind die amerikanischen Äquivalente mehr der Fantasy als literarischem Genre im Fahrwasser von J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe verpflichtet. Dies entspricht auch mehr der verlegerischen Intention, auf eben diesen Trend zu reagieren. Deshalb ist auch der reißerische Name Das Schwarze Auge statt Aventuria gewählt worden.[24] Nachdem den Autoren allerdings unklar war, was ein solches Auge eigentlich überhaupt sein sollte, wurde es in seiner magischen Funktion schnell in Anlehnung an den Tolkien’schen Palantír erfunden:
Wenn ein mit magischen Fähigkeiten begabtes Wesen die Kugel reibt und dabei an einen bestimmten Ort oder an eine bestimmte Person denkt, so wird das Schwarze Auge hell, und in seinem Inneren leuchtet das Bild des Gewünschten auf. Eine Spielrunde lang können nun alle Helden einer Gruppe verfolgen, was an einem fernen Ort vor sich geht. Danach wird die Kugel wieder schwarz und kann erst nach zwanzig Spielrunden wieder aktiviert werden.[25]
Die Spieler*innen des Schwarzen Auges operieren quasi homolog. Zwar bedienen sie keine Kristallkugel, dafür eine Reihe von schwarzen Heften, die (wenn aufgeschlagen) hell werden, Illustrationen und Geschichten bieten, und dazu formale Möglichkeiten, „das Gewünschte” darzustellen. Solange die Spielgruppe besteht, können alle Teilnehmer*innen verfolgen, was an einem fiktiven Ort vor sich geht. Dann verschwinden die Spielutensilien wieder in der Schachtel und erst nach einer Reihe von Werktagen versammeln sich alle wieder.
Neben einem Regelwerk erschien der schon erwähnte Aventurische Bote und sogenannte Abenteuer als illustrierte Hefte: Sie enthielten Erzählungen zum Nachspielen, d.h. auch Pläne, tabellarische Auflistungen, Zeichnungen und was sonst noch hilfreich scheint, damit man an dem spielweltlichen Geschehen teilhaben konnte, das in der laufenden Herausgabe weiterer Hefte redaktionell gestaltet wurde. So formiert sich eine offizielle Chronik (auch „Metaplot“ genannt), von der man vielleicht Spielrunde für Spielrunde abweichen mag, die im Grunde aber einen verbindlichen historischen Verlauf einführt. Spielleiter*innen, bzw. emphatischer im DSA-Sprech die Meister, entnehmen diesen Texten sämtliche Details dieser Narrationen. Sie sind gegliedert in Allgemeine Information (zum Vorlesen), Spezielle Information, die man auf entsprechende Nachfragen herausrückt und Meisterinformation, in der die inneren Zusammenhänge und numerische Werte aufgehoben sind, also der Hintergrund, den sich die Spieler*innen sukzessive erschließen. So vermittelt die Spielleitung ihren Gruppen, gemäß dem Wissensstand ihrer Charaktere, eine Welt, meist gefahrvolle Gemäuer, die durchquert werden. Sie entdecken so stückweise durch ihre Handlungen jenen Teil der Fiktion, der ihnen überhaupt erst durch das Setting des Spiels verborgen worden ist, für das ein Sichtschirm emblematisch steht: hinter diesem breiten Spielleiter*innen ihr Material aus und verbergen es so vor den Spieler*innen. Innen ist er bedruckt mit Auszügen aus den Regeln, Kurzfassungen wichtiger Spielelemente und Tabellen, außen mit einem Bild eines steinernen, schwarzen Auges. Ein ähnlicher Sichtschutz, wie ihn ein Buch mit festen Einband macht, das aufgestellt wird.
Von Boxen zu Büchern: Spiel als Medium
Mittlerweile ist das Regelsystem in fünfter Edition erschienen und wird redaktionell betreut. Der Reiz der Kaiser-Reto-Box liegt gewiss darin zu verdeutlichen, wie heute nicht mehr gespielt wird. Dazu ist ein weites Spektrum an Produkten ist erschienen, die alle unter der Marke DSA firmieren: Brettspiele, Computerspiele, Romane, Konzept-Musikalben; dazu Beiträge der Fan-Community, die sich schon vor der Durchsetzung von Social Media intensiven Gebrauch von Internetforen machte. Im kollektiven Erzählen verästelt sich also die Geschichte Aventuriens auf vielfältige Art und Weise. Das mythopoetische Spiel ludifziert das Fantasy-Genre mit jeder weiteren Remediation.
Fokus dieser genealogischen Untersuchung ist, wie sich in den Titeln des DSA Regelwerks diverse visuelle Strategien abzeichnen, die der Einübung der Regeln des originären Erzählens dienen. Bevor man also auf bewährte Computerspiel-Designs zugreifen konnte, musste man ein Verständnis für die abenteuerlichen Papierkriege stiften. Zuerst gilt es, eine Spielrunde versammeln; lernen, diese zu leiten; d.h. wiederum den Mitspieler*innen beibringen, selbstständig von ihren Möglichkeiten Gebrauch zu machen, in Form von regelkonformer Interaktion mit dem Ausschnitt der Spielwelt, der von der Spielleitung präsentiert wird.
Daraus erklärt sich die unfreiwillige Komik der Ausstattung dieser ersten Spiele, deren Wiederauflage nur mit all den beigepackten Kuriositäten als vollständig galt, wie etwa der „Maske des Meisters”: ein regeltechnisch überflüssiges Accessoire, welches die Spielleiter*innen aufsetzen sollten. Diese Sonderstellung vorher bestimmter Teilnehmer*innen einer Spielrunde ist aus anderen Brettspielen seinerzeit nicht gut bekannt gewesen. Üblicher sind kompetitive Settings unter gleichberechtigten Spieler*innen. Zugleich adressieren Spiele in Schachteln zunächst die kaufkräftigen Eltern in der Spielwarenhandlung – daheim am Spieltisch dann aber Kinder selbst, deren Lesekompetenzen auf nicht so viel Erfahrung bauen können. Die Verleger eines Spiels sind also bemüht, durch das beigelegte Material (mithin Spielzeug wie Pappfiguren) die eigentliche Textlastigkeit von Rollenspielen zu übertünchen. Werner Fuchs erinnert sich:
Aber warum gab es diese [Werkzeug-]Box? Weil Schmidt was für Brettspieler wollte, was zum Anfassen. Etwas, das weniger abstrakt war, mit Bodenplänen und Markern. Wir hatten einen Spielzeugverlag als Verleger und mussten Spielzeug liefern. Das geschriebene Wort war denen höchst suspekt. […] Und dann lag dem ganzen Unfug noch die Maske des Meisters bei. Bei der D&D-Fraktion standen wir damit richtig albern da.
Die eigentliche Spielaktivität ist also gar nicht so gut als Rollenspiel beschrieben — auch wenn sich diese Gattungsbezeichnung etabliert hat. Eine Maske ist ein durchaus brauchbares Accessoire im Sinne des Mimikry nach der Gattungsbestimmung von Roger Caillois, das auf ein Spiel mit der eigenen Identität abzielt. Eigentlich hat man es mit laufendem Organisieren und Verwalten von Informationen zu tun. Die Spielleitung weiß Bescheid und setzt die Teilnehmer*innen einer Spielrunde sukzessive ins Bild der Welt, die ausgekundschaftet wird. Nach narrativen Kriterien, die sich in Charakterdaten quantifizieren lassen, wird geregelt, zu welchem Grade die Spieler*innen sich einbringen können. Ein nüchterner Überblick über die entscheidenden Werte genügt den seriösen Spielleiter*innen; die Mystifizierung eines weisen „Meisters des Schwarzen Auges” wirkt dagegen lächerlich.
Durch den bürokratischen Formalismus bereiten Tisch-Rollenspiele schon Wege der Visualisierung von Wissen in zeitgenössischer digitaler Kultur vor. Mehr noch als die Übersetzung in Computerspiele interessiert hier vorrangig die Transformation vom Brettspiel zum markttauglichen, papierbasierten Rollenspiel und in weiterer Folge die Optimierung der Umsatzzahlen durch Attraktivierung des Kernprodukts Regelheft. Implizites Wissen der Brettspieler und explizites Wissen, die Faktenhuberei über phantastische Ländereien, ist im Falle eines common playground, den Aventurien bietet, in besonderer Weise verschränkt. Es erlaubt durch seine niedrigen Leistungsanforderungen – vermittelt nur durch Stift und Papier – mit plausiblen Vorschlägen, die Geschichte auf nicht antizipierten Pfaden voranzutreiben, ohne dabei die am Spieltisch sich formierenden Vorstellungen einer authentischen Welterfahrung zu verletzen.
Die Kaiser-Retro-Box vereinigt in sich mehrere Sets, in denen diese erste Regeledition von DSA ausgeliefert wurde, gemeinsam mit einzelnen Abenteuerheften. Die ersten Spieleschachteln selbst enthielten neben Regelwerken und Abenteuergeschichten verschiedene Broschüren, Formulare, Kartenmaterial und Kopiervorlagen. Die vertrauteren Spiel-Accessoires mussten in einer Box nachgeliefert werden, vor allem um die Erwartungen der Spielwaren-Produzenten selbst zu befriedigen:
Die Schmidt-Verkäufer sollten eine Ahnung davon bekommen, was sie da eigentlich unters Volk bringen sollen. Dabei mussten wir natürlich bei Null anfangen. […] Richtig verstanden haben sie es nie. Es gab ja auch kein Spielbrett, keine festen Regeln, nur ein paar Freaks um einen Tisch, das war für die alles sehr undeutsch. Unser Job war, sie verbal zu bewaffnen, damit sie DSA dem Einzelhandel erklären konnten.[26]
Die Unabgeschlossenheit des „undeutschen” Spieldesigns erlaubte dafür zahlreiche Erweiterungen. In weiterer Folge erschienen zahlreiche Erweiterungen, die sich einem bestimmten Thema widmeten (z.B. Magie, Flora und Fauna, Waffenarsenale) oder mit Fokus auf bestimmten aventurischen Regionen. Ab der vierten Edition wurden diese Sets eher durch aufwändig illustrierte Hardcover-Bücher ergänzt, mit Lesezeichenbändchen, Tasche für Kartenmaterial und Buchrücken. Wer die sogenannten Regionalbände in der Reihe ihres Erscheinens aufstellt, sieht an den Buchrücken den Umriss des aventurischen Kontinents. Der Wechsel von der Box zur Buchreihe ist auch eine Emphase dieses Sammelns eines kontinuierlich wachsenden Wissensbestands und enzyklopädischen Umgangs mit Spielinterna.
In Regionalbänden konnte man mehr über bestimmte Gegenden erfahren und diese Schauplätze ausgestalten. Bestimmte Abenteuer-Kampagnen (zusammenhängende Episoden einer Geschichte), die besonders dick auftrugen und epische Ereignisse in historischen Ausmaßen schilderten, werden ebenso in solchen Sammelbänden wieder aufgelegt. Spielrunden können heutzutage entscheiden, historische Szenarien zu spielen, oder aber in der inneraventurischen Gegenwart und den Abenteuern nachzugehen. Vor allem sind die jugendlichen Spieler*innen von einst selbst zu kaufkräftiger Kundschaft herangewachsen und frönen nun ihrem Eskapismus mit angemessenem Spielmaterial, das diesem zum Hobby avancierten Spiel das nötige Gewicht gibt.
Zauberkunde: Nachschlagen als ludisches Lesen
Es lässt sich also ein allgemeiner Trend feststellen von der Box zum Buch. Anfänglich wird Wissen über den fiktiven aventurischen Kontinent und wie man epische Erzählungen am Spieltisch produziert durch Spielmaterialien und billig produzierte, illustrierten Regelhefte impliziert. Mit wachsendem Umfang und vertrauterem Publikum wird dieses Regelwerk zunehmend in aufwändig gestalteten Hardcover-Bänden dargeboten. Somit materialisiert sich die Leidenschaft für das Rollenspiel nicht mehr in Hobbyräumen und Kinderzimmern, sondern der intellektuell anerkannten Bücherwand. Aus dieser sticht vielleicht ein besonders opulentes Buch der vierten Regeledition heraus: Der Liber Cantiones versammelt alle Zaubersprüche, welche die magiekundige Bevölkerung Aventuriens kennen könnte, in einem goldgeprägtem Kunstlederband. Darin beschrieben sind die Regeln, die gelten, wenn magiebegabte Charakteren thaumaturgische Effekte in die Spielwelt setzen möchten. Wer also darin nachschlägt, benutzt es nicht nur als enzyklopädisches Druckwerk; es ist zugleich ein Requisit. Denn auch die akademisch organisierten Gildenmagier*innen Aventuriens benutzen Zauberbücher, um ihr Wissen zu tradieren, zu erweitern und anzuwenden. Wie der virtuelle Würfel in Baldur’s Gate taucht somit plötzlich am realweltlichen Interface zu Aventurien – hier also am Spieltisch – ein Artefakt auf, dessen Existenz bislang vom Spiel simuliert wurde.
Im schieren Volumen des Liber Cantiones, vor allem im Vergleich zur Handvoll Zaubersprüchen der ersten Version, zeigt sich wieder die expansive Tendenz der Bürokratisierung: In Regeln reichert man die Spielwelt mit immer mehr Möglichkeiten an; oder man verbessert Designs, die von der Spielerschaft nicht gut angenommen werden. Im redaktionellen Prozess gibt es für die aventurische Spielwelt schon vor Server-betriebenen Computerspielen Updates und Patches, deren Notwendigkeit sich erst aus ersten Erfahrungswerten ergibt, die man mit der Anwendung des Spielprogramms sammelt. In den Anfangstagen gab es nicht genug Zaubersprüche, um einen ganzen Band zu füllen. Es genügte, einen Zauberspruch richtig aufzusagen, und den damit ausgelösten regeltechnischen Effekt auszuführen und veranschlagte „Astralenergie”-Kosten auf dem „Dokument der Stärke” zu verbuchen:
Auch kommt es gelegentlich auf eine schnelle Reaktion des Zauberers an. Ein Beispiel aus dem Spielgeschehen: MEISTER: „Ihr geht durch einen dunklen Tunnel. Plötzlich schlüpft ein Tatzelwurm aus einer Öffnung in der Wand!” SPIELER DES MAGIERS: „Ha! Ich schleudere ihm ein FULMINICTUS - Donnerkeil (Kampfzauber) entgegen!” Stellen Sie sich vor, der Spieler sagte stattdessen: "Kann ich mal das Regelbuch haben? Ich glaube, da gibt es irgendeinen Kampfzauber, der jetzt ganz gut passen würde …” Bis der Spieler die Formel findet, hat der Tatzelwurm den Helden womöglich schon verspeist. Magiekundige Helden zu führen, stellt für jeden Spieler eine überaus reizvolle, wenn auch nicht ganz einfache Aufgabe dar. Wenn sie also einmal einen Elfen oder Magier spielen wollen, prägen sie sich bitte die folgenden Typenbeschreibungen gut ein.[27]
Durch Zaubern nehmen Spieler*innen Anteil an Aventurien in der Art, die eigentlich der Spielleitung zu eigen ist. Sie können einfach kodifizierte Effekte in die fiktionale Welt setzen. Das Memorieren und die regelkonforme Anwendung von Spruchmagie inseriert eine uns nicht vertraute Gesetzmäßigkeit, die den Spielfluss aber so nicht stört. In den Worten Huizingas: „Für den frühen Menschen bedeutet etwas können und wagen Macht, etwas Wissen aber Zaubermacht.“[29]
In der Spielfigur des Magiers formuliert man eine Kritik an anderen Spielsystemen, die wiederum die magischen Aspekte auf die regeltechnischen Effekte auf die Kampfhandlungen reduzieren: „In vielen Phantasie-Geschichten und wohl auch in manchen Phantasie-Spielen sind die Mitglieder der Magiergilde zu einer Art pyrotechnischer Hilfstruppe der anderen Heldentypen herabgesunken. Die Magier des Schwarzen Auges sind ein anderer Menschenschlag. Sie betreiben ihre Kunst mit dem ganzen Ernst eines Wissenschaftlers.“[30] Dieser Entzauberung der Zauberei soll entgegengewirkt werden: Spielleiter*innen sind dazu angehalten auch sonst stimmige Darstellungen der Charaktere mit „Abenteuerpunkten“ zu belohnen – einer Spielwährung, die Erfahrung abbildet und somit sukzessive die Werte der Held*innen verbessert, d.h. ihre Chancen erhöht, weitere Abenteuer zu bestehen.[32]
Das später erscheinende Liber Cantiones entspricht einer typographischen Realisierung dieser Besonderheit taumathurgischer Rollen durch ein Buch als Requisit. Als solches sollte dieses auch anderen Charakterklassen zur Verfügung gestellt werden, deren Spieler*innen sich vielleicht in ähnlichem Ausmaße mit ihren Spielfiguren zu identifizieren trachten. Wo in der ersten Regelversion schlicht Zauberer- und Elfenmagie getrennt wurden, ist in der vierten Version, zu der auch das Liber Cantiones zählt, die Zauberkunde alphabetisch sortiert, aber über umfassende Verschlagwortung auffindbar gemacht: nach Arten von Spruch- und Ritualmagie diverser Traditionen, in sich gegliedert nach Effekten (Verwandlung, Kampf, Telepathie, etc.) und Möglichkeiten listet, unter welchen Bedingungen diese Wirkungen abgeändert (verlängert, intensiviert, spezifiziert) werden können.
Jenseits des Entzifferns von Schriftzeichen vollzieht sich Lektüre durch verschiedene Kulturtechniken der Hand-Auge-Koordination: Im Fall von Büchern ist jedes Lesen zunächst ein Blättern. Doch reicht dieses „Lesen mit dem Daumen” alleine nicht aus, um Kontingenz im Bezug auf den Handlungsverlauf zu simulieren, wie es das erklärte Ziel von Rollenspielen ist. Auch das Nachschlagen in Büchern ist eine grundsätzlich andere Herangehensweise, die nicht den Text an zufälliger Stelle aufschlägt und somit eine Dynamik der Beliebigkeit ins Spiel bringt. Sie hält für das Springen zwischen verschiedenen Versatzstücken einer Welt und Elementen möglicher Handlungen ein Regelwerk bereit, so dass diese Verknüpfungen besser oder schlechter vom kollektiv entwickelten Narrativ gestützt werden kann und ultimativ auf anschauliche Weise ein plausibler Verlauf einer Geschichte entsteht. Die dabei rekurrierte Welt ist nur durch die individuelle Phantasie beschränkt. Ein übergeordneter diskursiver Rahmen wird durch die Sammlung an Büchern etabliert. Durch diese Kodifizierung wird über die Gültigkeit einer spezifischen Erzählung entschieden. Am Spieltisch gestapelt liegen sie bereit, um die Konformität einzelner Aussagen mit Regeln und Spielwelt zu bestätigen.
Anschaulichkeit, verstanden als typographische Wissensordnung, visualisiert zwischen zwei Buchdeckeln Welt selbst als virtuellen Raum, der eigenständig navigiert werden kann. Somit wurde das Buch medienhistorisch als vorrangige Benutzerschnittstelle kollektiven Wissens prämiert, das nun spätestens seit der Allgegenwart elektronischer Displays in Smartphones herausgefordert ist. Das Interaktionsangebot von tabletops zeigt, dass die Kulturtechnik des Blätterns erweitert werden kann, ohne damit nur in Opposition zum hypertextuellen Aufrufen von Information zu bestehen. Zwischen dem Blättern, Nachschlagen und Stapeln von Druckwerken formiert sich ein ludisches Lesen, das ergänzt um Würfeln, Kartographieren, Ausfüllen von Formularen die spielerische Auseinandersetzung mit Text differenziert auffassen kann.[31] Sie ist nicht nur einem der Pole (play/game) von Spielaktivität zuzuschreiben. Auf Caillois’ Tabelle ließe sich die Entwicklung dieser Praxis selbst in die dort postulierte Kontinuität eintragen: von anarchischem, subversivem Kinderspiel mit dem Buch (zufälliges Blättern, wie z.B. Bibelstechen) und den spontanen Erfinden und Vortragen von Geschichten am Lagerfeuer bis hin zur regelgeleiteten, aber nicht chronologischen Auseinandersetzung mit dem Inhalt eines ganzen Text-Korpus’, was unter Dramaturgen als worldbuilding verschlagwortet ist: die detailreiche Ausstattung eines Schauplatzes und seiner Bewohner*innen über das hinaus, was eigentlich inszeniert und erzählt wird. DSA operationalisiert in erster Linie das Nachschlagen als Kulturtechnik, mit der die Teilhabe an der fiktiven Welt Aventuriens organisiert wird.
An der papiernen Materialität dieses Pen&Paper-Rollenspiels ließ sich zeigen, wie hypertextuelle Umgangsformen mit Wissen prototypisch in den Umlauf gebracht werden. Spieler*innen springen zwischen nach Bedarf zwischen Textblöcken, Bildern und Tabellen hin und her, oft in einem Alter, wo sie noch die Eltern um Zugang zum Heimcomputer bitten mussten, dessen Internet-Wählleitung nicht immer frei war — sofern überhaupt verfügbar. Der Übergang von Paidia (play) zu Ludus (game) ist nicht as sukzessives Erstarren zu begreifen; diese Ludifizierung ist besser verstanden als eine dialektische Wechselwirkung von verspieltem und regelgeleitetem Operieren im Sinne eines stimmigen Erzählens, das in weiterer Folge mittels neuer Technologien remediatisiert wird. Gerade in dieser mythopoetischen Flexibilisierung bei gleichzeitiger bürokratischer Standardisierung der Wahrheitsspiele wird aber nicht nur die sogenannte Digitalisierung antizipiert, sondern zugleich die scheinbar antiquierte Buchform gefeiert.
- Larian Studios: Baldur’s Gate 3, 2023. ↩︎
- Wizards of the Coast: Dungeons & Dragons, 2014. ↩︎
- Vgl. dazu das sogenannte System Reference Document, das die Regeln komplett (wohl aber ohne ausschmückenden Textbeispielen und Illustrationen) beinhaltet und frei im Internet verfügbar ist: <https://www.d20srd.org/>, [15.6.2024] ↩︎
- Blizzard Entertainment: World of Warcraft, 2008. ↩︎
- BioWare: Baladur’s Gate, 1998; BioWare: Baldur’s Gate II: Schatten von Amn, 2000. ↩︎
- Die Tischrollenspiel-Praxis erfährt gewiss auch neue Popularität durch weithin bekannte Inszenierungen wie in der Netflix-Serie Stranger Things, die D&D als Teil der 80er-Jahre Jugendkultur nostalgisch verklärt, aber auch nochmals die öffentliche Kontroverse, die damals geführt wurde, in Erinnerung ruft. Jedenfalls ist das mit Spannung erwartete Ergebnis eines kullernden zwanzigseitigen Würfels in der Montage mit einem auf dem Korb springenden Basketball parallelisiert und zur Klimax stilisiert. ↩︎
- Vgl. Bolter; Grusin: Remediation. 2001. ↩︎
- Apprich; Bachmann: Mediengenealogie. 2017, 405. ↩︎
- Vgl. Müller: Weiße Magie. 2012. ↩︎
- Vgl. Krämer: Schriftbildlichkeit. 2003. ↩︎
- Vgl. Felsch: Sommer der Theorie. 2015. ↩︎
- Vgl. McLuhan: Heiße und kalte Medien. 2004 [1964], 45. ↩︎
- Graeber: The Utopia of Rules. 2016, 113. ↩︎
- Ebd., 115. ↩︎
- Lötscher: Warum Fantasy? 2023, online: https://geschichtedergegenwart.ch/warum-fantasy/. ↩︎
- Ende: Unendliche Geschichte, 2019. ↩︎
- Graeber: Utopia of Rules. 2016, 119. ↩︎
- Vgl. Caillois: Man, play and games. 2001[1956], 36. ↩︎
- Graeber: Rules of Utopia. 2016, 121. ↩︎
- Huizinga: Homo Ludens. 2009, 38. ↩︎
- Donecker, et al. (Hg.): Forschungsdrang und Rollenspiel: Motivgeschichtliche Betrachtungen zum Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge, 2019. ↩︎
- Die Kaiser Reto-Box versammelt die ersten Regelhefte mit einem Nachwort des letzten, verbliebenen der Originalautoren — Werner Fuchs — und dazu die ersten Ausgaben des Aventurischen Boten. Das macht diese frühen Texte mit der Festlegung einiger Kürzel sehr gut zitierbar: Buch der Abenteuer (BdA), Buch der Regeln (BdR), Buch der Macht (BdM). ↩︎
- Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 66 (BdR). ↩︎
- Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 57 (BdR). ↩︎
- Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 62 (BdA). ↩︎
- Don-Schauen; Römer; Weste: DSA4 - Liber Cantiones. 2023. ↩︎
- Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 47 (BdR). ↩︎
- Huizinga: Homo Ludens. 2009, 119. ↩︎
- Ebd., 49. ↩︎
- Vgl. Huber: „wann er also das ganze Buch durchlauffen”, 2024. ↩︎
- Vgl. Bickenbach: Bildschirm und Buch. 2023. ↩︎
Literatur
- Apprich, Clemens, und Götz Bachmann. Mediengenealogie. Zurück in die Gegenwart digitaler Kulturen. In: Gertraud Koch (Hg.): Digitalisierung. Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung. Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft, 2017, S. 405–425.
- Bickenbach, Matthias. Bildschirm und Buch: Versuch über die Zukunft des Lesens. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2023.
- Bolter, Jay David, und Richard Grusin. Remediation: Understanding New Media. 4. Aufl. Cambridge: MIT Press, 2001.
- Caillois, Roger. Man, Play and Games. Urbana: University of Illinois Press, 2001.
- Donecker, Stefan, et al. (Hg). Forschungsdrang und Rollenspiel. Motivgeschichtliche Betrachtungen zum Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge. Waldems: Ulisses Medien und Spiel Distribution, 2019.
- Don-Schauen, Florian, et al.. Liber Cantiones. Waldems: Ulisses, 2023.
- Ende, Michael. Die unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemann in der Thienemann-Esslinger, 2019.
- Graeber, David. The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy. Brooklyn/London: Melville House, 2016.
- Huber, Simon. ‚wann er also das ganze Buch durchlauffen‘. Über die Virtualität des Raumes im Orbis sensualium pictus (1658). In: Christine Gundermann, Barbara Hanke, und Martin Schlutow (Hg.): Digital Public History: analytische Zugänge und Lernpotenziale digitaler Geschichte. Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Denken, Band 12. Berlin/Bruxelles/Chennai/Lausanne/New York/Oxford: Peter Lang, 2024, S. 213–230.
- Huizinga, Johan. Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: rororo, 2009.
- Kiesow, Ulrich: Die Gabe der Amazonen. Erkrath: Fantasy Productions 1988.
- Kiesow, Ulrich, et al. Kaiser-Retro-Box. Waldems: Ulisses, 2018.
- Krämer, Sibylle. ‚Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Sibylle Krämer und Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. Kulturtechnik. München: Fink 2003, S. 157–175.
- Lötscher, Christine. „Warum Fantasy?“ Geschichte der Gegenwart. Geschichte der Gegenwart, 2023. <https://geschichtedergegenwart.ch/warum-fantasy/.>[01.07.2024]
- McLuhan, Marshall. Heiße Medien und kalte. In: Claus Pias et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. München: DtV, 2008, S. 45–54.
- Müller, Lothar. Weiße Magie: Die Epoche des Papiers. München: Carl Hanser Verlag, 2012.
- Rautzenberg, Markus, Rolf Nohr, Claus Pias und Gabriele Grammelsberger. Spielförmige Emergenz: Für eine Neubestimmung der Spielwissenschaften. Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung, 15. Oktober 2021. https://paidia.de/spielfoermige-emergenz-fuer-eine-neubestimmung-der-spielwissenschaften/.
- Richter, Daniel und Reinwald Katja: Rondra-Vademecum. Brevier des Reisenden Geweihten, Waldems: Ulisses, 2010.
- Strouhal, Ernst: Gespräch mit einem Esel. Über das Lesen mit dem Daumen, Wien: Brandstätter, 2019.
Erwähnte Spiele
- BioWare: Baldur’s Gate. 1998.
- BioWare: Baldur’s Gate 2. Shadows of Amn, 2000.
- Larian Studios: Baldur’s Gate 3, 2020.
- Attic: Das Schwarze Auge: Schicksalsklinge, 1992.
- Radon Labs: Das Schwarze Auge: Drakensang, 2001
- Blizzard Entertainment: World of Warcraft, 2008.