Lehre, Spiel, Kultur

Eine Machbarkeitsstudie zur Genese einer kohärenten Ludologie

Stand: Mai 2024

Präambel: Blog und Buch

Dieser Text entsteht aus laufenden Forschungen und Hochschullehre. Vom Umfang her ist etwa mit der Entstehung eines Buchs zu rechnen; doch im Unterschied zu einem solchen, veröffentliche ich hier die einzelnen Kapitel, sobald sie noch nicht fertig, aber einmal abgeschlossen sind. Damit sind sie auch der Kritik freigegeben. Zuschriften sind also willkommen und werden überschwänglich gedankt.

Inhalt

  1. Einleitung
    1. Ludologie im Unterschied zu Game Studies
    2. Die Entdeckung der Trivialität
    3. Game Design in Begriffen der Kulturtechnikforschung
    4. Strategien der Humanisierung durch Spiel
    5. Produkte der Ludologie
    6. Ausblick
  2. Topographien des Lesens
    1. Ein Fall für die Ludolodie: Entwicklung einer spielwissenschaftlichen Heuristik
    2. Blättern: Herstellung von Lesbarkeit
    3. Nachschlagen: Navigation von Textwelten
    4. Stapeln: Strategien des Lesens
    5. Zusammenfassung
  3. Anatomie der Spiele
    1. Schachteln: Kommerzialisierung der Spielkultur
    2. Geisteraustreibung: Technisierung des Alltags
    3. Wissen: Pädagogisierung visueller Kultur
    4. Zusammenfassung
  4. Spielbarkeit der Stadt
    1. Verwalten: Papierkriege
    2. Flannieren: Unumgängliches Taktieren
    3. Fürsorgen: Infrastruktur und Teilhabe
    4. Zusammenfassung

Ludologie im Unterschied zu Game Studies

Was ist Ludologie? Semantisch ist diese Frage leicht zu beantworten. Ludus, das Spiel auf Latein; dazu Logos, die Lehre auf Altgriechisch; das ergibt eine Lehre vom Spiel. Ist dieses Kofferwort einfach so ausgedacht? Gibt es überhaupt eine moderne, wissenschaftliche Lehre vom Spiel?

Gewiss, werden jene antworten, die dieses Thema zu ihrem Hauptanliegen erklärt haben und ihren wissenschaftlichen Anspruch auch nach außen zu kommunizieren trachten. Doch kommt damit ein verbindliches Set an Begriffen, Methoden und Instrumenten einher? So erwartet man dies von etablierten Lehren: der Psychologie, der Biologie, der Soziologie, der Pharmakologie, etc. Dieser Vergleich zeigt, dass es sich um ein verhältnismäßig neues Feld handeln muss — sonst wäre diese Erklärung hier auch gar nicht nötig. Sind sich aber die Proponenten einer Ludologie einig, wie die Erforschung der Spiele von statten zu gehen hat? Und wissen die Außenstehenden, was sie von dieser Wissenschaft zu erwarten haben? Bei den eben genannten Beispielen nimmt das produzierte Wissen eine (unterschiedlich stark) popularisierte Form an: Diagnosen, Taxonomien, Statistiken und Nebenwirkungen. Was wären die äquivalenten Produkte der öffentlich kommunizierenden Ludolog*innen?

Es ist also nicht gesichert, ob es eine Ludologie gibt oder geben wird.[1] Man darf vermuten, dass in den Game Studies ein tragfähiger Kompromiss gefunden wurde. Also ein loses Arrangement unterschiedlichster Disziplinen rund um das Thema Spiel.[2] Mit ihrem herkömmlichen Instrumentarium werden die Narrative, die Medien, die Gemeinschaften, die durch, durch die und die rund um Spiele zirkulieren, ins Visier genommen. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die vereinzelten Vorstöße, die sich aus der allgemeinen Verbreitung von Computerspielen legitimiert, in einem systematisch operierenden Paradigma vereinen? So wird von Spielforscher*innen die eigene Situation verglichen, mit etwa jener der Filmwissenschaft, die sich nach Dekaden als ernstzunehmende Disziplin etablieren konnte, deren zentrales Forschungsanliegen anfänglich als unernstes Unterhaltungsmedium galt.

Nichts lässt sowas vermuten: Es ist überhaupt fraglich, ob sich solche medienhistorische Rhythmen ableiten lassen, die im Grunde aus technologischem Fortschritt und den späteren Generationen, für die sich andere Selbstverständlichkeiten ergeben. Doch sind vielleicht die mediengeschichtlichen Umwälzungen auch schlicht zu unterschiedlich. Vor allem aber ist Spiel nicht notwendigerweise durch ein technisches Medium vermittelt. Zum Beispiel kann die jetzige Erwachsenengeneration mit ihren Kindern gar nicht so leicht die Rahmenbedingungen herstellen, so dass die Computerspiele ihrer Jugend wieder so spontan ausprobiert werden können im Gegensatz zu jenen kommerziellen Produkten, die nun problemlos auf den gebräuchlichen Smartphones genutzt werden. Auf der anderen Seite erweisen sich Kinderspiele, die kaum wo niedergeschrieben sind, in einem traditionellen Sinn als sehr verlässlich: Verstecken, Fangen und Tempelhüpfen werden nur mit kleinen Variationen praktiziert, auch weil sowas einfach niemand das wichtig genug nimmt, dass es exakt nach Vorgaben exerziert wird.

Es empfiehlt sich daher zu klären, worin überhaupt das Potential einer kohärenten Spielwissenschaft liegt. Was sind die Vorteile einer auf konsistenten Prinzipien gebauten kulturwissenschaftlichen Ludologie und welche welche Schwierigkeiten gälte es zu überwinden? Dann kann man auch das Forschungsfeld systematisieren, für eine einheitliche Vorgehensweise der der Erforschung der Spiele werben und die Ausbildung von Ludologen organisieren, die sich dann um — ja, was denn eigentlich? — kümmern.

Die Entdeckung der Trivialität

Es gibt ein wissenschaftliches Interesse an Spielen, das nicht nur metaphorisch ist — so wie Schillers berühmtes Zitat aus dem 15. Brief zur ästhetischen Erziehung des Menschen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” In dem selben Brief zugleich wird eine pragmatische Spielwissenschaft explizit versagt: „Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind und die sich gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten”.[3] Im Unterschied dazu interessieren sich jene Fälle, in denen das Potential für eine Grundlegung der Ludologie zu sehen ist, genau für solche Dinge: jene materiellen Gegenstände, in denen sich Trivialitäten, das Nebensächliche, das Frivole, das Unernste des Alltags widerspiegelt.

Genau dies war der Verdienst des Kulturhistorikers Johan Huizinga, der in seinem Homo Ludens beschreibt, wie alle Kultur anfänglich gespielt wird, d.h. auch in einer Bagatelle gründet. Wobei er auch gleichzeitig anerkennen muss, dass das Spiel als Gegenteil von Ernst auch nicht richtig bestimmt ist: „Sobald wir an Stelle von ‚Spiel ist Nichternst’ sagen: ‚Spiel ist nicht ernsthaft’ lässt uns dieser Gegensatz im Stich”.[4] Robert Pfaller kann psychoanalytisch diese Widersprüchlichkeit aufheben und entdeckt so das Lustprinzip in der Kultur. Die gedankliche Herausforderung, die Huizinga formuliert, basiert — so Pfaller — von zwei „unverdaulichen Thesen”:[5]

  1. Der „heilige Ernst” des Spiels ist Ursprung der Kultur.
  2. Spiel hat die Tendenz sich aus der begründeten Kultur wieder zurückzuziehen.

Akzeptiert man diese Prämissen, sind Spiel und Kultur also auch bei der Analyse von Spielkultur sorgfältig auseinanderzuhalten. Die Unverdaulichkeit dieser Thesen ist umso wichtiger zu betonen, als dass heute die Trivialität, die dabei ventiliert wird heute nicht mehr offensichtlich zu Tage tritt: Spiele sind längst nichts Triviales mehr. Dazu muss man nicht schon wieder die erstaunlichen Umsätze bemühen, die mit Videospielen eingefahren werden. (Diese verblassen selbst wiederum gegenüber dem Profit, der durch die Kultivierung des Gamblings vom gesellschaftlichen Glück abgeschöpft wird. In Anbetracht dessen erfährt dieser Bereich zu wenig Aufmerksamkeit von den Game Studies.)[6]Spielestudios bestehen nicht nur aus IT-Experten und Ingenieuren virtueller Welten, sondern auch aus Drehbuchautoren und Künstlern; aus Doubles und voice-actors, deren Körper aufgezeichnet und eingespielt werden, etc. Und umgekehrt fließt dieses Wissen wiederum in die Traumfabriken zurück, die ihre Stars vor greenscreens ablichten und den Rest per Computergraphik bestellen.[7] Game Design ist mithin eine moderne, kulturelle Leistung. Sie äußert sich nicht nur in typisch-zeitgeistigen Tendenzen, sondern produziert ein Wissen, das wiederum medientechnische Rückkopplungs-Effekte zeitigt. Genau dies ist das kulturelle Residuum, welches vom Spiel zurückgelassen wird, aufgehoben in den technologischen Ensembles, die unseren Alltag rahmen.

Auch beim Konsum erfordern Computerspiele leistungsstarke Prozessoren, nicht weniger potente Graphikkarten bzw. Konsolen, die sobald sie einmal am Markt erscheinen, bereits Mangelware sind.[8] So technisch betrachtet, ist diese Art der Freizeitbeschäftigung längst kein Kinderspiel mehr: umgekehrt wird man mit der Aufzeichnung des eigenen Durchlaufs des Spielprogramms zur Produktionsstätte von audiovisuellem Material und per Stream zur Sendestation. [9] Dementsprechend professionell bzw. authentisch muss auch die Umgebung gestaltet sein, in der das Gespielte abläuft und gezeigt wird (vgl. Taylor 2018). Indem man sich auf ein bestimmtes Spiel abrichtet, erwirbt man die Kompetenz bei E-Sport-Veranstaltungen mitzumachen. Hier locken Preisgelder und Berühmtheit innerhalb der Spieler*innengemeinschaft — auch werden Turniererfolge zur Frage nationalpolitischer Anerkennung und Rivalität.[10] Sowohl Produktion als auch Konsum haben sich vom Heiligen Ernst einer urtümlichen Spielpraxis entkoppelt und lassen in profanen, ökonomisch verwerteten Schleifen Bedeutungen zirkulieren.

Diese knallbunten Welten der Spieldesigner*innen und Profi-Spieler*innen lassen schnell vergessen, was diese Aufmerksamkeit-heischenden Apparaturen antreibt und somit die Blickregime konstituiert. Dabei ist egal wie weit und mit welchen technischen Kompetenzen im Detail sich die Spieler*innen oft über diese festgelegten Rahmenbedingungen in Form von Mods, Speedruns, und Machinima-Videos erheben. Die gegenständliche Spielkultur entpuppt sich in beiden Fällen (in der Produktion von Spieldingen als auch im intendierten Spiel mit ihnen) ein ständiges Basteln: ein tinkering, bricolage, hack. Wenn denn die Sorge um die gewaltverherrlichenden Darstellungen überwunden werden kann, dann sind es oft unerschrockene Pädagogen, die meinen, darin das Lernen selbst zu entdecken; bescheidenere Denker interessieren sich eher für den harmlos ausgedrückten Spaß;[11] die Scharfsinnigen erkennen hinter dem euphorischen Multiplayer-Engagement im Grunde eine Wirtschaftsleistung.[12] Auf alle Fälle kann im Grunde nach wie vor dieselbe Enttäuschung folgen: nämlich, dass es am klarsten als schlichter Zeitvertreib zu beschreiben ist, der nicht einmal fröhlich ablaufen und so ‚Spaß machen’ muss. Denn gerade wenn Spiel nichts ist außer Spiel, wirkt es zu banal, als dass es weiterer Aufmerksamkeit verdient.

Das zeigt sich auch wiederum entlang der Geschlechter-Grenzen: Die weiblichen Spieler*innen beanspruchen für nicht weniger intensiv betriebenes aber eben doch nebensächliches casual gaming keinen Gamer-Titel. Die Hochleistungs-Spielergemeinschaft, berüchtigt für ihre Misogynie,[13] ist auch bestrebt wieder kompetitives Spiel von dem „verweichlichten”, nicht-richtigen Spiel derjenigen abzugrenzen, die sich nur ihre Zeit vertreiben. Wenn das Spiel also nicht mit kommerziellem Interesse oder dem profanen Ernst pädagogischer Intention aufgeladen wird, dann ist es sogleich wieder eine Nebensächlichkeit.

Game Design in Begriffen der Kulturtechnikforschung

Wenn man sich also fragt, wie eine Wissenschaft zu formulieren ist, welche dieser Größe „Trivialität” widersprüchlicherweise jene Relevanz beimessen kann, die ihre Erforschung legitimiert, dann vermisst man zwar dasselbe Gelände, welches die Game Studies beackern; Doch sucht man nicht nach weiteren herausragenden Fällen, die aus welchen ästhetischen, monetären, politischen Gründen auch immer Beachtung verdienen; vielmehr ist die theoretische Möglichkeit tiefer zu graben interessant. Das ist etwas anderes als lediglich die Eingemeindung des Ressorts der Spiele in die Studien des Populären.[14] Denn ohne einer solchen Parteinahme kann eine ergebnisoffene selbstreflexive Standortbestimmung vollzogen werden, innerhalb der epistemologischen Debatte rund um die Chancen einer theoriegeleiteten Kulturkritik.

Die hier angewandte Methodik wäre die Grundlage für eine Ludologie, eine kohärente Spielwissenschaft, die im Gegensatz zu den lose um das gemeinsame Forschungsinteresse gruppierten Disziplinen nicht das herkömmliche Instrumentarium der eigenen Schule auf das Objekt des Interesses anwendet. Gemäß Roland Barthes ist es nicht hinreichend interdisziplinär ein gewisses Sujet oder Thema aus den Blickwinkeln zweier oder dreier Wissenschaften zu beleuchten, vielmehr besteht die Interdisziplinarität darin, „ein neues Objekt zu erschaffen, welches niemandem gehört.”[15]

Nun möchte man meinen, dass eben all die Karten, Bretter, Steine, Chips und Würfel, Joysticks und Bildschirme, die Schläger und Platzmarkierungen doch eigentlich niemandem gehören. Selbst wenn es einen Eigentumstitel gibt (auf Grund oder ein Objekt), so haben diese Dinge im Zuge des Spiels einen ganz bestimmten Zweck, der solche persönlichen Besitzansprüche nebensächlich werden lässt. (Man denke etwa an einen umkämpften Ball, der während der Spielzeit tatsächlich niemandem gehört.) Solches Spielzeug stellt ein Sammelsurium an Trivialitäten dar, für die sich kaum wer als solche interessiert — entweder sind Mathematiker*innen bemüht möglichst schnell algebraisch ein Wissen zu abstrahieren und in Formeln zu gießen, z.B. Berechnungsarten der Wahrscheinlichkeit. Oder man stilisiert diese Alltäglichkeiten zu auratischen Objekten in musealem Kontext. Jedenfalls haben sie nicht den Status eines Mediums, der ist eben Computerspielen und den Fernsehübertragungen der Sportveranstaltungen vorbehalten.

Doch in der Materialität des Spielzeugs selbst zeichnet sich die Performativität ab, in welcher das Kulturschaffen des Homo Ludens gründet; also auch alle jener, die nicht ihr know-how formalisieren und explizieren. Schweigendes Wissen, tacit knowledge, das üblicherweise archäologisch freigelegt wird. Diese Ludologie wäre eine Wissenschaft von der Hand und des taktilen, vor-diskursiven Kompetenzbereichs, den diese dominiert. Als Kulturtechniken können wir diese Selbstverständlichkeiten ansprechen: sie steuern sowohl durch Schnittstellen (z.B. Interfaces, wie die mittlerweile ubiquitären touchscreens) technische Medien aber umfassen auch primitive Prozeduren, wie das Blättern in Büchern.[16] Der Gebrauch diverser Medien wird auf eine Ebene projiziert, wo Doomscrolling und Bücherwälzen gleichermaßen als kulturelle Praxis erscheinen. Wissen wird verkörpert und ist (im Gegensatz zur prozessierten Information) nicht beliebig skalierbar, also auf ein sogenanntes Menschenmaß angewiesen. Für eine solcherart konzipierte Spielwissenschaft ist etwa die Geschichte des mathematischen Problems der Quadratur des Kreises augenfällig: Es ist unlösbar, solange man auf das klassische Instrumentarium von Zirkel und Richtscheit (Lineal) beschränkt ist. Aus diesem Spiel, welches die gestellte Aufgabe durch das kanonische Arbeitsmaterial impliziert, wird geometrisches Wissen generiert.

An exakt diesem Konnex von Materialität und Performativität setzt die Kulturtechnikforschung an und kann daher zur Beschreibung von Spiel dienen, das älter als Kultur ist, weil es diese ja hervorbringt. Sie geht aus der Mediengeschichtsschreibung deutscher Prägung hervor und verblieb nicht bei den technischen Schaltungen, mittels derer eine Kultur ihr Wissen speichert, überträgt und verarbeitet; viel radikaler noch wurden die primitiven Mittel und Techniken ins Auge gefasst, mit denen fundamentale Unterschiede, die Kultur ausmachen — innen/außen, Signal/Rauschen, Sprache/Sprachlosigkeit, etc. prozessiert werden.[17] Das Spielzeug ist ein Interface, nur manchmal im engeren Wortsinn zum maschinellem Ensemble namens Computer, immer jedoch zu dem konzeptuellen Regelkonstrukt des Spiels. Auch in einem analogen Brettspiel werden die Zugfolgen und Operationen, durch welche Spieler*innen handeln und kommunizieren als Spielmechaniken beschrieben.[18] Ganz allgemein emergiert Spiel (game) als eigentliches Forschungsobjekt aus der vordiskursiven Handhabe. Ein solches muss nicht erst unter einem Titel für eine bestimmte Konsole publiziert werden um der Analyse zugeführt zu werden.

Spiele sind so gesehen Modelle und Schemata, gemäß derer verschiedene Funktionen und Prozesse miteinander verschränkt werden. Also solche bieten sie zugleich Schnittstellen, die das spielerische Handeln informieren; in welchen sich mehrere solcher Differenzierungsketten überlagern und miteinander verzahnen, worin nicht zuletzt die weltstiftende Kraft der Kulturtechniken liegt und die wiederum die Dynamik der Spiele speist. Game Design und Gameplay konvergieren in dem Maße, in welchem sich die Spieler das Wissen über die Herstellung der Spielwelt aneignen können. Mods, Speedruns, Machinima-Videos, Game Art, die aus dieser Bricolage hervorgehen, sind gleichermaßen wie die vermarkteten Spiele selbst Kulturgüter.

Humanisierungen durch Spiel

Es gibt zahlreiche Projekte, die den Anspruch einer Ludologie artikulieren und sogar im Titel tragen.[19] Doch meistens sind dies persönliche Projekte, die nicht den Anspruch eines Forschungsprogramms artikulieren, dem es verbindlich zu folgen gelte. Eine kritische Masse, die das auch tut und mit entschiedener Vehemenz eine disziplinäre Vorrangstellung einzunehmen trachtet und ihre Methodologie durchsetzen möchte, ist nicht in Sicht. Der Anspruch der mit der Selbstbezeichnung als Ludologin oder Ludologe einhergeht ist meist sich als kritisch denkendes Individuum über die Trivialität des Gegenstands zu erheben, anstatt diese zu akzeptieren und in die Analyse zu integrieren.[20] Die Begeisterung, die als Effekt des Spiels hervorgehoben wird, um seine kulturelle Bedeutung zu untermauern, könne dann angeblich gleich nutzbar gemacht werden und einem Zweck zugeführt werden; d.h. meist in einer dem Spiel uneigentlichen, ökonomischen Logik verwertet werden. Die Naturgesetze, die solche Ludolog*innen dem Spiel abzulauschen meinen, sind auf eine internalisierte Glückoptimierung enggeführt.[21]

Durch diese weit verbreitete utilitaristische Einfalt wird man auch, wenn man auf eine disziplinäre Identität pocht, ganz zurecht mit Skepsis bedacht. Das damit einhergehende Forschungsprogramm sollte sich dennoch nicht auf die inter- bzw. transdisziplinäre Verfassung kaprizieren. Diese mag anfänglich nötig erscheinen, um das Feld überhaupt zu konstituieren. Doch damit die Themensetzung nach eigenem kritischen Ermessen geschehen kann, braucht das Forschungsobjekt eine klare, theoretische Kontur, um sich nicht der Beliebigkeit verdächtig zu machen, etwa in der Wahl eines der Fallstudie würdigen Spiels.

Daher ist die kulturgeschichtliche Relevanz nicht nur im Bezug auf die von Computerspielen dominierte Gegenwart herzustellen. Das ermöglicht einen kritischen Blick auf die zeitgenössischen Diskurse rund um Digital Humanism bzw. Digital Humanities, in denen auf die Herausforderungen durch den flächendeckenden Einsatz von Computertechnologie reagiert. So ist man bemüht wieder sich genuin menschlicher Werte zu besinnen. Es wurde nun schon — in nicht bloß defensiven Tonfall — die Körperlichkeit der Wissensaneignung betont, die vom Hantieren mit trivialen Dingen ausgeht. (Allzu emblematisch muten daher die Schwierigkeiten an, die es den maschinen-trainierten Bildgeneratoren bereitet, Hände abzubilden.) Der Homo Ludens, als eine Gestalt, deren Denken sich in der Hand-Auge-Koordination entfaltet, fordert die auf instrumentelle Rationalität (d.i. die Intelligenz, die künstlich hergestellt wird) bauenden Bestimmungsversuche des Menschen heraus, indem er ein „abwegiges Subjekt” darstellt; dieses kann „außer sich” sein, begeistert von dem einen Spielverlauf aber auch süchtig schon die nächste Runde antizipieren.

Derzeitige Game Studies sind von einer Unentschiedenheit geprägt, an der die Entwicklung zur Ludologie hängt. Es ist nicht letztlich geklärt, ob Spiele zu uns sprechen oder Maschinen darstellen, die wir bedienen; so sind auch die Adressat*innen — also eigentlich Spieler*innen — weder Rezipient*innen noch Nutzer*innen. Je nach Temperament bemüht man folglich verschiedene Anthropologien, um zu erklären, warum man sich überhaupt den Regeln unterwirft, die ein Spiel — „bloß ein Spiel!” — vorgibt. Dabei beschwört man entweder

  1. emphatisch die magische Wirkung des Spiels, die Illusionen und somit die kulturelle Bedeutungsaufladung, oder
  2. beschreibt eben etwas technischer den psychologischen Effekt einer angemessenen Auslastungskurve, die nie langweilt und nie überfordert.
    Immersion und Flow kennzeichnen zwei Abwege der Spielenden. Empirisch begegnet man Ersterem mit soziologischer Medienrezeptions-Forschung; Zweiterem mit behavoiristischen Versuchsanordnungen, Forschungsdesigns, die mit freiem Auge nicht von kommerziellem Computerspiel zu unterscheiden sind. Die Brüchigkeit der zusehends atomisierten Gesellschaft ist an der Untersuchung des Spiels und der ultimativen Rückführung auf das Individuum abzulesen.

Die Dämonisierung bzw. Mystifizierung des Heiligen Ernsts gilt es kulturtheoretisch auszuklammern: Das Hervorrufen von Begeisterung durch das kontinuierliche Raffinieren der Spieldesigns kann nicht die Motivation der Spielwissenschaft sein. ; ebensowenig die pädagogische Sorge rund um rezente Jugendkulturen und damit einhergehend eine Sucht-Prävention, die es zu organisieren gälte. Wohl aber kann das in Spielzeug und Game Designs objektivierte Treatment der nachkommenden Generationen auszubildender und mit dem Set an kommunikativen Fähigkeiten auszustattender Humanoiden als kulturhistorischer Gegenstand herhalten, an dem die Menschwerdung sich studieren lässt.

Erinnern wir uns nochmals an Barthes: Die interdisziplinäre Untersuchung muss ein Objekt ausfindig machen, dass niemandem gehört und für das noch keine Begrifflichkeit etabliert ist. Er fügt auch sogleich hinzu: „Der Text, so glaube ich, ist eines dieser Objekte.”[22] Damit ist das revolutionäre Potential dieser Aussage auch gleich wieder entschärft, indem einem konkreten Forschungsobjekt gleich wieder ein Abstraktum vorgeschoben wird. Der Text gehört nicht niemandem; der Text gehört ‚natürlich’ den jeweiligen Leser*innen, könnte man auch Barthes mit Barthes entgegnen: er ist die Hinterlassenschaft des gestorbenen Autors. Und so verkommt, was immer die eigene Aufmerksamkeit gewinnt — sei es ein klassisches Spiel wie Backgammon oder ein beliebiger erfolgreicher Computerspieltitel —, in akademischer Gewohnheit zum Text. Als solcher kann das unübersichtliche Gewimmel, welches Spiel in der Außenansicht darstellt, wohlgeordnet und kodiert als Dokument angeeignet, der szientifischen Kritik zugeführt und von der Institution Wissenschaft verarbeitet werden.

Die Lektüre ist also jene Praxis, die uns wieder in alte Gelehrsamkeit verfallen lässt. Wie lässt sich diese derart tiefgreifende Disziplinierung hintergehen? Wenn Spiele zu Texten gerinnen können, dann sind vielleicht umgekehrt Texte hinsichtlich ihrer Spielbarkeit aufzufassen. Solch eine Vorgangsweise verspricht auch Souvik Moukherjee in seinem Untertitel zu Video Games and Storytelling. Reading Games and Playing Books (2015). Leider erklärt diese Analyse nur den ersten Teil des Titel und nicht wie genau Bücher gespielt werden. Zu lange verzettelt man sich in Texttheorie und dringt nicht zum Buchartefakt vor. Systematischer gefragt: Durch welche Kulturtechniken wird Schrift, noch bevor es zu ihrer kognitiven Dechiffrierung kommt, überhaupt handhabbar? So wie nun Computerspiele gelesen werden, gilt es in symmetrischer Anthropologie herauszufinden, wie immer schon Lektüre gespielt wurde.[23] Das darf als Beleg gelten für die Kompetenz der Kulturtechnikforschung, sich der Sache der Spiele anzunehmen.

Was produziert eine Ludologie?

Nun finden wir mittlerweile schon zahlreiche Analysen von einzelnen Spielen oder Fällen vor. Ein Feuilleton, in welchem die Bedeutung des einen Titels oder des anderen Falls in Zusammenhang mit anderen Beiträgen ein loses Netz auch mehr oder weniger wichtiger Studien bilden. Wie kann man diese vielen Kommentare systematisieren? Nur im besten Fall lassen sie allgemeinere, aber doch nur einzelne Aussagen über unsere Spielkultur zu, die sich auf die zu Grunde liegende Analyse beschränkt. Damit nun all diese Fallstudien zu diesem oder jenem Spiel nicht zu akademischen Fingerübungen verkommen, bedarf es einer weitreichenderen Perspektive. In einer wissenschaftlichen Problematik mit einer Ludologie an ausgewiesenem Ort erhielten die einzelnen Studien ihren kulturellen Stellenwert und können im Zuge kontinuierlicher Historisierung kritisches Potential entfalten. Aus den Game Studies, einer Essayistik partikular bedeutsamer Spielerfahrungen, könnte eine Spielwissenschaft als anerkannte Disziplin hervorgehen, die Kulturgut in gelebter Praxis kontextualisiert, bevor es gänzlich zur Ware erkaltet.

Die dahinter liegenden Schwierigkeiten lassen sich leicht an der Ludologie vs. Narratologie-Debatte ablesen. Es gibt also eine Gruppe an Forschenden des 21. Jahrhunderts,[24] die Spiele eher in Geschichten gerinnen sieht, die es mit dem entsprechenden linguistischen Arsenal zu bearbeiten gilt. Damit sind die Probleme, die hier als typisch ludologische Schwierigkeiten konturiert werden sollen, an eine Normalwissenschaft angeschlossen, wie man den literaturwissenschaftlichen Komplex nennen könnte — der freilich auch interdisziplinäre film-, medien- und musikwissenschaftliche Auseinandersetzung zulässt. Jedenfalls bedeutet dies den Anschluss an das geltende Paradigma. Für die entsprechenden Forscher sind Spiele dann Ausflüge in die bunte Landschaft der Unterhaltungsindustrie, die von einem traditionellen Denkstil kolonisiert werden.

Was aus Mukherjees Zusammenfassung der Ludologie vs. Narratologie-Debatte nicht hervorgeht, ist die auf Konferenzen deutlich spürbare Müdigkeit der wissenschaftlichen Gemeinschaft sich eben mit der Frage nach einer genuinen Ludologie auseinanderzusetzen: also die definitorische, methodologische Problemlage außer Acht lassend, kann man für die beiden Richtungen ein jeweils anderes Interesse festhalten: Ludologen vertreten die Lossagung von hergebrachten Verfahren und Insistieren eine disziplinäre Identität. Narratologen hingegen erprobt gerne die verfügbare Methodik unbefangener an den Gegenwartsphänomenen. Im Bezug auf die künstliche Dichotomie dieser zwei Zugangsweisen wirkt jede Behauptung einer Ludologie wie eine Zurückweisung exegetischer Verfahren, die den Spielen beigepackten Narrationen zu ergründen trachten. Doch abseits der Provokation, dass gewissen Spielakten nur schwer eine Erzählung zu unterstellen ist, muss eine ludologische Herangehensweise nicht zwingend ihren Gegenstand von jeglicher Narrativität reinigen. Dafür hat die Unentschiedenheit, ob denn Spiele nun als narratives Mittel zu begreifen sind oder vielmehr eine technische Apparatur sind, Konsequenzen, die weitere Erforschung erschweren — nicht nur inhaltliche, sondern auch hochschulpolitische: solange es keine Lehrstühle gibt, wird auch das Forschungsunternehmen, das Licht auf das Spielen, die unübersichtliche Vielfalt an Spielen und die situativ höchst unterschiedlichen Begleiterscheinen nicht nach außen hin zu profilieren sein. Die dem Spiel eigene Trivialität wird stets einen leisen Unernst mitbringen, der, so deutlich uns auch das Spiel als Alltagsphänomen vor Augen gestellt werden kann, alle im unklaren lässt, was man sich von den tätigen Ludologen nun zu erwarten hätte. Was produzierten also Ludologen?

Diese Frage vermag auch die Kulturwissenschaften in ihrem jetzigen Status insgesamt herausfordern: Wie ist denn ihre Leistung zu rechtfertigen? Derzeit wird die Leerstelle, an der spekulativ eine Ludologie entstehen sollte, von Forschungsprogrammen unterschiedlichster Fachrichtung ausgefüllt und damit von jeweiligem, spezifischen Erkenntnisinteresse grundiert. Das Spiel ist dann schon auf eine Vermittlungsinstanz festgelegt, in der sich die eigenen normwissenschaftlichen Erkenntnisse popularisieren lassen. Damit spart man eine ernsthafte Epistemologie aus; eine Selbstreflexion, die sich aus der Betrachtung der eigenen Handhabe unseres Wissens durch diverse Interfaces, in denen man immer zunächst noch als Lesende*r aber heutzutage immer auch als user, d.h. Computerspieler*in formatiert ist. Seien es Mail-Provider, durch welche die eigenen Korrespondenzen gesteuert werden, social media accounts, zum Verwalten persönlicher Netzwerke oder die Chatfenster, in denen wir Textproduktion mit Hilfe von large language modells simulieren. Von hier aus kann man hochschuldidaktischer Zurichtung der Lehre wieder kritisch begegnen: es werden etwa Punkte aus einem Semesterbudget eingesetzt, um sich für Lehrveranstaltungen anzumelden; diese sind in Modulen organisiert und bringen ECTS-Einheiten; da ist doch die Frage angebracht, welche Effekte ein so elaboriertes Spiel auf die persönliche Bildung, also die Kultivierungsleistung der der nachkommenden Generationen an Wissenschaftler*innen zeitigt? Und dieser Frage könnte mit einer fundierten Kritik des entsprechenden Wissens systematisch erschlossen wird. Dieses hat nicht nur der Inhalt eines Unterrichtsveranstaltung zum Objekt, sondern auch den Unterricht in welchem dieser zur Darstellung gebracht wird selbst.

Spiele erlauben die gemeinsame Analyse von Lehrwissen und des gelehrten Wissens. Auf pragmatischer Ebene für naturwissenschaftliche Forschungsprogramme praktisch-epistemologische Erkenntnis bereithalten, darüber wie sich in den curricularen Ordnungen und im Zuge der Vermittlung Wissen konsolidiert. Schon die Suche nach einer konsistenten Ludologie so ein wertvolles Erneuerungsprogramm für die kulturwissenschaftlichen Fakultäten darstellen. Diese sind laut Aleida Assmann von Grenzenlosigkeit gekennzeichnet, die sich in der ständig wechselnden Hinwendung zu anderen Hauptkriterien äußert: cultural turn, linguistic turn, spatial turn, material turn, spectral turn, etc. Ohne die daraus resultierende Produktivität einhegen zu wollen, scheint die visuelle Oberfläche des Spiels als Forschungsobjekt all diese Interessen bedienen zu können, indem sie historisiert werden: Spiel ist nicht nur materielles Ding und auch nicht nur formalisiertes Handeln oder gar rein rationales Kalkül, wie das etwa in der ökonomischen Spieltheorie sich artikuliert. Damit zentrieren sich diverse Studien der Kultur, um das jeweilige praktische Wissen, welches gerade im Spiel ist. Vor allem aber gilt es daher herauszufinden, welche wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis aus der Erforschung der Spiele verbindlich gesetzt werden dürfen. Auch wenn medien- und kulturwissenschaftliche Disziplinen erst ihre Gegenstände konstituieren, so scheint es dringlich — insbesondere in Anbetracht des Misstrauens der Wissenschaft als Institution in den vergangenen Krisen und der sich zuspitzenden ökologischen Desaster — eine Art kommunikativen Austauschs zu konzipieren, der funktional ist ohne die zum anschaulichen Verständnis eingeführten Schemata absolut setzt und sich in Autoritätsbeglaubigungen versteigt. („Listen to the Science!”)

Ausblick

Die hier versammelten Schriften sind insofern als eine Machbarkeitsstudie zu verstehen, die Chancen und Schwierigkeiten einer potentiellen Ludologie untersucht. Ob sie sich aus dem interdisziplinären Fegefeuer zu einem systematischen Forschungsprogramm aufschwingen kann, wird sich mit der Zeit weisen. Der Stellenwert, den sie in der wissenschaftlichen Forschungslandschaft einnähme, der lässt sich schon jetzt anhand der Kulturtheorie des Spiels ermitteln.

Wir entwickeln dazu eine spielwissenschaftliche Heuristik: Nach der Tabelle Caillois’ sind Spiele in Kinderspiele und regelgeleitete Spiele aufzuteilen. Paidia und Ludus, eine Unterscheidung, die auf Englisch schon im Sprachgebrauch angelegt ist: play und game. Diese ergänzen wir um das Taktieren und Entwickeln von Strategien im hypothetischen Raum der Simulationsspiele. Damit widmen wir uns unserem ersten Fall: der Spiele mit Büchern.

Die Topographien des Lesens sind daher ein Fall für die Ludologie: In Büchern wird geblättert, nachgeschlagen und sie werden gestapelt — bzw., wenn verfügbar in Regalen gereiht. Dies sind nur nur im weiteren Sinne Lese-Operationen; eigentlich beschreiben diese drei Funktionen ein Raster des Nicht-Lesens, in dessen Zwischenraum die eigentliche kognitive Decodierung stattfindet. Zwischen diesen Kulturtechniken spannt sich das Wegenetz auf, entlang dessen die Augen wandern; die Infrastruktur, durch die man visuell die Gesamtmenge an Text navigiert. An dieser kulturwissenschaftlichen Analyse der Hand-Auge-Koordination, die aus ethnographischer Perspektive nicht von sinnesfassender Lektüre zu trennen ist, wird der methodische Einsatz der Kulturtechnikforschung erprobt. Indem die Bedingungen der selbstverständlich gewordenen Alphabetisierung wiederum in Bezug auf ihre Genese hinterfragt werden, destabilisiert sich auch das transportierte Wissen. Verspieltes Lesen, ludisches Lesen und strategisches Lesen stehen für drei Aggregatzustände, in denen alle Spielhandlungen erklärlich werden.

Damit erhält die Kulturtheorie des Spiels von Johan Huizinga ein medienwissenschaftliches Fundament, das ihm fehlt, weil er sich bemüht den spielenden Menschen aus historischen Quellen zu rekonstruieren. Nimmt man diesen kanonischen Text der Spieleforschung in seiner Radikalität Ernst, so folgen wir ihm dabei in der Trivialität des Spiels, ultimativ in seiner Materialität, dessen kulturschaffende Funktion zu ergründen. Als Historiker ist er ein Lesender vergangener kultureller Äußerungen, der sprachlich operiert, wenn er sich ein Bild etwa von einem herbstlichen Mittelalter macht.

Der nächste Schritt ist daher eine Bestandsaufnahme des vorhandenen ludologischen, begrifflichen Arsenals. Es gilt zu prüfen, welche Begriffe das Potential haben der Systematisierung des Forschungsfeldes dienlich zu sein. Der Entwurf einer Ludologie auf Basis der Kulturtechnikforschung zeichnet daher vom medienwissenschaftlichen Ort ausgehend den Plan einer Ludologie, die trotz der Familienähnlichkeiten, die für den Forschungsgegenstand typisch ist, verlässliche Analyseraster und Beschreibungsmöglichkeiten aufzeigt, die nicht auf willkürlichen Setzungen, etwa der Differenzierung von analogen und digitalen Spielen, von Gesundheit und Sport, Arbeit und Freizeit, ultimativ Natur und Kultur beruht. Alles was als Spiel erkennbar ist und in den aus der Analyse gewonnenen Kulturtechniken beschrieben werden kann, lässt auch spielerische Handlungen in einem informellen Kontext aufzeigen. Diese können im Sinne De Certeaus als taktische Handlungen entgegen der Strategien der Kontrolle verstanden werden. Um die kleinteilig erarbeiteten Freiräume in den alltäglichen Machtkämpfen äußert sich eine grundsätzliche Spielbarkeit.

Die Spielbarkeit der Stadt ist sodann ein gutes, weil sehr anschauliches Beispiel, an welchem die Potentiale einer Ludologie erprobt werden können. Anhand des Stadtlebens, das auch immer Ausgangspunkt für diverse Utopismen ist, lässt sich die von David Graeber — etwas zu holzschnittartig oppositionelle — Spannung von subversivem play verordneter Regeln (game, oder eben auch Utopia of Rules) exakter beschreiben. Indem die Ludologie all die Möglichkeiten indexiert, die aus der körperlichen Performance im Rahmen gegebener Regulative emergieren, gelingt vielleicht eine linke Kritik der Bürokratie. Wie Graebner dies erörtert, sind unsere Erwartungen an die effektive Verwaltung zwar geschwunden, doch die kostspielige Zumutung der eigentlich nutzlosen Papierkriege hat zugenommen. Und es ist stets die Rechte, die mittels einer Kritik an der Verwaltung Austeritätspolitiken rechtfertigt und wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen abbaut. Die Bürokratie hypertrophiert währenddessen unter den glänzenden Glasfassaden und ubiquitären Bildschirme. Die erwirkten Zeitersparnisse durch entfallende Behördengänge gehen allemal verloren durch das Schreiben von Anträgen, das Einwerben von Drittmitteln und Abschließen von Privatversicherungen, um die allgemein entwerten öffentlichen Dienstleistungen wett zu machen bzw. durch prekäre Lebensbedingungen die Produktivkräfte der Kapitalakkumulation zuzuführen.

Eine Spielwissenschaft, die nicht nur spieltheoretisch ökonomisches Handeln modelliert, sondern zugleich habituelle Formen und rituelle Praktiken berücksichtigt versucht das Bild von verkörpertem Wissen zu konstruieren. Eine Stadt ist dann auch als Raum für öffentliches Handeln zu verstehen. Als epistemische Praxis können Spiele eine nicht weiter formalisierbare Wissenskonfiguration darstellen, die sich dem Phantasma einer immerzu gelingende Effizienzsteigerung durch Digitalisierung verwehrt.


  1. Vgl. Rautzenberg et al. (2021), Spielförmige Emergenz. Für eine Neubestimmung der Spielwissenschaften, in: PAIDIA. Zeitschrift für Computerspielforschung, online:https://paidia.de/spielfoermige-emergenz-fuer-eine-neubestimmung-der-spielwissenschaften/ ↩︎
  2. Gundolf S. Freyermuth beschreibt das Forschungsinteresse der Game Studies mit Rekurs auf ein frühes Buch von Katie Salen und Erik Zimmerman Rules of play (2004) mit vier Schwerpunkten: ein pragmatisches Interesse an gelungenem Design, ein psychologisches Interesse an der Besonderheit der Spielaktivität, eine Hermeneutik des Computerspiels, also das Interesse an den kulturell bedeutsamen Artikulationen; dazu die Frage von analogen zu digitalen Spielen. Die ersten drei entsprechen den Kapiteln „Rules”, „Play” und „Culture”, das letzte drängt sich geradezu auf, wenn das Spiel historisiert wird (vgl. Freyermuth, Gundolf S. (2020): Game Studies. In Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hrsg.), Handbuch Gameskultur, 28–33. Berlin: Deutscher Kulturrat.). Damit wird jedoch eine problematische Setzung mit den ihnen eingebauten Fortschrittsnarrativen übernommen, die Computerspiele als die logische Konsequenz der Spielkultur erscheinen lässt, die sich aus den rudimentären Spielen davor einfach entwickelt hätte. Hier soll es also auch darum gehen so voreilige Binnendifferenzierung zu hinterfragen. ↩︎
  3. Schiller, Friedrich (1795): Fünfzehnter Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen. Friedrich Schiller Archiv, online: https://www.friedrich-schiller-archiv.de/ueber-die-aesthetische-erziehung-des-menschen/fuenfzehnter-brief/ (letzter Zugriff 15.05.2024). ↩︎
  4. Huizinga, Johan (2009): Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: rororo, 14. ↩︎
  5. Pfaller, Robert (2002): Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, Kap. 3, 92-120. ↩︎
  6. Bei aller gegebenen Vorsicht gegenüber einem leichtfertigen Umgang mit Umsatzzahlen und Marktdaten soll hier festgehalten werden, dass laut Statista im Jahr 2023 das Marktvolumen von Casinos und Online-Glücksspiel weltweit rund 263 Milliarden USD betrug. Das ist noch immer mehr als die für 2024 prognostizierten 258,10 Milliarden USD für die Videospielbranche. (Vgl. https://de.statista.com/outlook/dmo/digitale-medien/videospiele/weltweit) Es ist wichtig dieses Verhältnis zu beachten, insbesondere weil gerne die wirtschaftlichen Dominanz der Computerspiele gegenüber anderen Unterhaltungsindustrien betont wird, dabei aber gerne der schmuddelige Teil des Glücksspiels weggelassen wird. Die Grundlegung einer Ludologie, die sich nicht auf arbiträre Kategorien ökonomischer Datenlagen verlässt, bestimmte selbst ihr Interessensfeld und könnte sich solchen kritischen Fragestellungen nicht entziehen. ↩︎
  7. Brookey, Robert Alan (2010): Hollywood Gamers: Digital Convergence in the Film and Video Game Industries. Indiana University Press. ↩︎
  8. Begeisterte Gamer, die der Illusion eines sich grenzenlos steigernden Fortschritts erliegen, sind dann überrascht, dass virtuelle Spielwelten, doch von einer materiellen Grundlage abhängig sind. Sie kommentieren Umstände wie Halbleitermangel und COVID-Krise, die Verzögerungen verursachten mit entblößender Naivität: „Zusammenfassend hat der Release [der Play Station 5, Anm. SH] deutlich gemacht, wie unvorhergesehene globale Ereignisse die Gaming-Welt beeinflussen können.” (David, Spiele-Release de | (2023): Von Knappheit zu Überfluss: Die Lieferschwierigkeiten der PS5. Spiele-Release.de https://spiele-release.de/blog/hardware/von-knappheit-zu-ueberfluss-die-lieferschwierigkeiten-der-ps5/ (letzter Zugriff 13.05.2024). ↩︎
  9. Das stellt einen vor gleich drei wissenschaftliche Probleme: Nämlich, einerseits wie dieses Format eines Let’s play-videos, also der kommentierte Mitschnitt eines Spieldurchlaufs als eine Zurichtung des Spiels als relevante Quelle für wissenschaftliche Untersuchungen gelten darf; inwieweit es berücksichtigt werden muss, um die Spieler*innen-Kultur der Gegenwart als ein Ganzes zu beschreiben — mitsamt der Diskussionsforen und diversen Gemeinschaften, die sich über verschiedene Plattformen bilden. Schließlich, inwieweit Let’s play selbst ein wissenschaftliches Protokoll sein kann, indem Spielhandlungen aufgezeichnet und analysiert werden können. (Vgl. Kremser 2015) ↩︎
  10. Yu, Haiqing (2018): Game On: The Rise of the eSports Middle Kingdom. Media Industries Journal 5(1). ↩︎
  11. Koster, Raph (2014): A theory of fun for game design. Sebastopol: O’Reilly Media. ↩︎
  12. Dibbell, J. (2010). Das virtuelle Bruttoinlandsprodukt. In: Fuchs, Mathias, Strouhal, Eernst (Hrsg.) Das Spiel und seine Grenzen. Passagen des Spiels II. Edition Angewandte. Springer, Vienna. ↩︎
  13. Diese ist wiederum als #GamerGate belegt und verschlagwortet: https://de.wikipedia.org/wiki/Gamergate-Kontroverse ↩︎
  14. John Fiske bietet mit seinem Reading the popular einen klassischen Standpunkt, der versucht eine aktive Rezipientenrolle im Gegensatz zur uniformen Akzeptanz einer kulturindustriellen Fertigungsnorm in den theoretischen Blick zu bekommen. In unserem Fall geht es nur zweitrangig um die arbiträre Unterscheidung in Hochkultur und diverse Subkulturen, sondern um die Spezifität der Spielhandlung im Unterschied zu anderem Kulturschaffen, das seinerseits anfänglich gespielt ist. ↩︎
  15. Barthes, Roland (1972): Jeunes chercheurs. Communications 19(1). 1–5, hier: 3. ↩︎
  16. Bickenbach, Matthias (2023): _Bildschirm und Buch: Versuch über die Zukunft des Lesens. _Berlin: Kulturverlag Kadmos. ↩︎
  17. Siegert, Bernhard (2020): Attached: The Object and the Collective. In Jörg Dünne, Kathrin Fehringer, Kristina Kuhn & Wolfgang Struck (Hrsg.), Cultural Techniques: Assembling Spaces, Texts & Collectives, 131–140. Berlin: De Gruyter. ↩︎
  18. Engelstein, Geoffrey (2019): Building Blocks of Tabletop Game Design. An Encyclopedia of Mechanisms. Boca Raton, FL: Routledge. ↩︎
  19. Z.B. gibt es das Institut für Ludologie (https://www.ludologie.de/); der Blog des renommierten Spieleforscher Jesper Juul, The Ludologist (https://www.jesperjuul.net/ludologist/); Gonzalo Frasca hat seinen gleichnamigen Blog eingestellt; dafür erscheint derzeit regelmäßig ein Podcast von Brettspieldesignern: The Ludologist. Um nur einige zu nennen. ↩︎
  20. Als Beispiel dafür kann ein gewisser David Wippersfurth herhalten, dessen Definition der Ludologie meines Wissens nicht breite Anerkennung gefunden hat, aber eben einer typischen Rhetorik folgt, Arbeit und Spiel gegenüberstellt und in folgender These kulminiert: „Ludology is not only the study of games, but the study of satisfaction engineering. The meaning of life is the pursuit and acquisition of happiness and prosperity in our society. If I could guarantee that you and everyone you knew of, would be happy for as long as you lived, then the only thing you could want for would be to live longer. Through Ludology I believe we can not only make enjoyable activities more enjoyable, but that we can even make un-enjoyed activities enjoyable.” — Wippersfurth, David (2009): Ludology: An Introduction to Me. Game Developer https://www.gamedeveloper.com/design/ludology-an-introduction-to-me (letzter Zugriff 09.05.2024). ↩︎
  21. Prominent dazu bezeichnet McGonigal in Reality is broken (2011) Game Designer als „Happiness engineers”. Als Gamification wurde die systematische Herangehensweise verschlagwortet, die künstlich unseren drögen Alltag aufpeppen möchte. Prima vista scheint dies eine fröhlichere Reformulierung eines „Libertären Paternalismus” zu sein, der uns trägen Lebewesen auf die (per Ökonomik ermittelten) rechten Wege schubst (nudging). ↩︎
  22. Barthes Roland. Jeunes chercheurs. In: Communications, 19, 1972. Le texte : de la théorie à la recherche. pp. 1-5, hier 3. ↩︎
  23. Latours Versuch einer symmetrischen Anthropologie versucht das distanzierte Verhältnis, in welchem Ethnographen den fremden Kulturen gegenübertreten, auf die eigene moderne (also wissenschaftlich operierende) Kultur anzuwenden — Marxisten bezeichnen dies vermutlich als Ideologiekritik, wobei insbesondere auch die Prämissen einer szientifischen Kritik des „notwendig falschen Bewusstseins” hinterfragt werden: „Die Anthropologie schließt das Studium der Naturgegenstände aus und beschränkt ihre Untersuchungen auf die Kulturen. Sie bleibt also asymmetrisch. Um komparativ zu werden und zwischen den Modernen und Vormodernen hin- und hergehen zu können, muß sie daher symmetrisiert werden. Sie muß nicht nur jenen Glaubensformen, die uns nicht unmittelbar berühren, die Stirn bieten können — ihnen stehen wir immer recht kritisch gegenüber —, sondern den wahren Erkenntnissen, denen wir selbst vollkommen anhängen. Die Anthropologie muß daher in die Lage versetzt werden, die Wissenschaften zu erforschen; dazu muß sie über die Grenzen der Wissenssoziologie und vor allem der Epistemologie hinausgehen.” — Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie, 123f. ↩︎
  24. Murray, Janet Horowitz (2001): Hamlet on the holodeck: the future of narrative in cyberspace.
    Cambridge, Mass: MIT Press. ↩︎