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Gegenwarts-Check

Gegenwarts-Check
Die Nische in einem Venn-Diagramm

Die sogenannte Gegenwart ist ein Podcast dreier Die Zeit-Feuilletonisten, die in abwechselnder Paarung ein dieser Tage relevantes Kulturphänomen diskutieren. Wie das heute state-of-the-art ist, versucht man sich durch ein bestimmtes Merkmal von vergleichbaren Produkten abzuheben. Dort startet man immerzu mit einem kleinem Spiel, den Gegenwarts-Check. Dann pitchen sich abwechselnd die Redakteure Beobachtungen, die sie im Alltag gemacht haben und die vermeintlich besonders aussagekräftig – ich würde sagen: emblematisch – für unsere Gegenwart einstehen.

Ich bin sehr dankbar für diesen Podcast, aber auch allein für das Wort "Gegenwartscheck". Es fungiert wie ein "reality check" – nur halte ich es für leichter intuitiv abzuklären, was der Gegenwart entspricht, als was Realität ausmacht.

Im folgenden gibt's drei Kommentare zur Aufmerksamkeits-Ökonomie, die ich im Gegenwartscheck als Praxis und als Game Design ausmache. Schließlich noch ein Vorschlag für den offiziellen Gegenwartscheck, also ein Beispiel für einen Sprachgebrauch, wie er mir als besonders gegenwärtig scheint und dessen Erörterung wiederum den momentanen Zeitgeist (hätte man früher gesagt?) kommentiert.

I. Der allmorgendliche Gegenwarts-Check

Immer wieder wird der Flat White als Trend und billige Möglichkeit urbaner Distinktion ins Spiel gebracht. Doch ganz allgemein erfüllt Kaffeetrinken eine Synchronisationsleistung. Schon der zweite Schluck Kaffee – meist bewusster getätigt als der Erste – ist ein kleiner Gegenwartscheck: Ohne Meditation oder vergleichbare Körperpraktiken, lenkt man die eigene Aufmerksamkeit auf das Hier-und-jetzt in Form der gefüllten Tasse. Diese ist eine Zäsur, ein absolut gesetzter Augenblick zwischen ungefährer Wachheit und zielstrebigem Tagwerk. In diesem Überlagern sich mehrere Phasen der Gegenwart:

  1. Die unmittelbare Gegenwart; der Punkt, wo Flüssigkeit auf Geschmacksknospen trifft und die Aufmerksamkeit auf die Bestandsaufnahme gerichtet entschlüsselt, was hier alles an vergleichbaren Geschmäckern vorgefunden wird.
  2. Die Morgenroutine; die Phase des Aufwachens und Ankommens im Tag und damit im heutigen Datum. Ultimativ indiziert das Getränk wie präsent man bei seiner Extraktion war. Ist sie gelungen, war man wohl bei der Sache.
  3. Die Saisonalität; schon beim Kauf achtet man auf's Röstdatum und der Röster wiederum auf die Frische seines Lagerbestandes. Diese Gegenwart ist das letzte Glied in einer globale Produktionskette, die in kitschigen Werbespots überblendet werden: Da werde ich mit meinem Häferl in die Anden gezaubert und grüße den kolumbianischen Bauern.

Der Gegenwarts-Check ist ja eigentlich ein Spiel, das dem Ernst der (feuilletonistischen) Debatte vorangeht, insofern ist es nur folgerichtig in einem Second Sunrise solch einen Gegenwartscheck reproduziert zu finden.

II. Kritik des Game-Designs des Gegenwartschecks

Gespielt wird um Punkte. Und zwar punktet ein:e Redakteur:in, indem man eine selbst erfahrene oder zugesendete Beobachtung der jeweiligen Co-Moderation schildert, die dann entscheiden muss, ob es sich wirklich um ein Phänomen handelt, das typisch ist für die Zeit, die wir gerade durchleben. Offensichtliche Schwierigkeiten mit der Akkuratesse, wird bereitwillig eingeräumt:

  • eine:r mag schon feinfühlig eine Modeerscheinung zu antizipieren, ohne dass dies die anderen schon Kenntnis genommen haben. Es stört nicht weiter, wenn mal Blinde über Farbe urteilen, wenn lustig spekuliert wird.
  • Die anfallenden Fehleinschätzungen werden mit Würde eingeräumt und zugestanden, und tun der Unterhaltung keinen Abbruch.
  • Auch, dass es kein Score-Board gibt, an dem man ablesen könnte, wer schon wieviele Punkte gemacht hat, sind für eine Aufwärmphase, die dieses Spiel für die Sendung darstellt, leicht zu verkraften.
  • (Obwohl ja auch nebensächliche Parameter, wie wer mehr Punkte vergibt, welche Kategorie am häufigsten punktet sowohl taktisch verwertet werden könnten und damit das Spiel reizvoller machten, als auch Rechenschaft über den Gegenwartscheck als Erkenntnismittel ablegen würden.)

Was das Game Design allerdings unschön schwammig macht, ist die Rolle der Erklärungen. (Bei den sechs Punkten die anfangs gespielt wurden, kosteten sie auch zu viel Sendezeit.) Einerseits ist es oft notwendig Kontext zu reichen, weil prinzipiell kein Sachverhalt ausgeschlossen ist und die Gegenwart ja nicht nur aus Objekten besteht, die man im Grunde einfach mitbringen könnte und dann eben den Hörern beschreibt; oder sprachlichen Wendungen, die sich mit Beleg zitieren lassen. Oft werden dann aber auch bei recht soliden Vorschlägen die argumentativen Luftsprünge selbst bewertet und nicht der Scharfsinn, der etwas in unserer transparenten Gegenwart ausgemacht hat, was später als typischer Bestandteil des kulturellen Inventars der 20er Jahre gelten wird.

Kern der Spiel- und Publikums-Erfahrung ist das Kreisen um die Gegenwart. Dies ließe sich besser operationalisieren, als einfach einen Richtspruch des Gegenübers abzufragen. Man messe doch einfach die Zeit, die man braucht, um ein Phänomen in seiner Gegenwärtigkeit zu repräsentieren: etwas, das unmittelbar einleuchtet, wird schnell als gegenwärtig bestätigt; manche Sachen benötigen vielleicht nur zwanzig Sekunden, um beim Anderen auf Verständnis zu stoßen. "Den Punkt kriegst du natürlich sofort!", hört man sie oft sagen. Sowas ist eher an der Oberfläche unserer Zeit zu finden, als etwas, dessen Gegenwärtigkeit erst mit Theorien, passenden Beispielen und viel Erklärung hergestellt werden muss.

Ich würde schlicht also alle show-hosts mit einer Klingel ausstatten, die immer dann geläutet wird, wenn der Groschen, den das Gegenüber eingeworfen hat, gefallen ist und die Zeit jener zwei Fälle vergleichen, die nacheinander vorgeschlagen wurden. Dazu eine maximale Rede-Dauer festlegen, die sich gut mit der Sendezeit verträgt und bei deren Ablauf automatisch der Punkt an die jeweils anderen geht. Jede Sendung könnte man auf zwei Gewonnene spielen und so auch Gegenwarts-immanent eine:n Sieger:in für die jeweilige Folge küren. (Man könnte natürlich auch weiterhin ins Blaue scoren.)

III. Mein Vorschlag für einen Gegenwarts-Check

Zu guter letzt ist mir beim Hören einer Folge ein eigenartiges Wort untergekommen: Das Thema der Anti-Deutschen, welches man sich vorknöpfte – und auch Anderes im Vergleich dazu – wurde als eher "nischig" eingeführt. Dies ist zunächst eine saloppe Adjektivbildung: aus dem Nischenthema wird ein noch nischigeres Thema, als es eh schon war.

Doch dahinter steckt ein sehr gegenwärtiger Sprachgebrauch: Die Nische ist ja eine gängige Metapher, um vom Massenmarkt abseitiges Geschehen zu beschreiben. Speciality Coffee ist etwa eine Nische, die ich besetzt habe, früher mal wörtlich als Barista und Kaffeehausbetreiber, nun als Kulturhistoriker mit Fokus auf spielerische Formen der Wissensvermittlung türme ich immer mehr Spezifika aufeinander, bis mein Produkt so unverwechselbar mit meiner Marke verbunden ist, dass es keinen Vergleich mehr nötig hat. Keine Konkurrenz ist mehr anzutreffen, weil ich ja in einer so kleinen Nische bin, dass hier niemand anderes mehr Platz hat.

Die Nischigkeit ergibt sich aus dem primitiven Zauber des Venn-Diagramms, mit welchem Marketing-Experten, die Sophisten des digitalen Zeitalters, erklären, wie man sich im Internet abhebe und auf diesem globalen Markt selbst unter enorm gesteigerten Konkurrenzdruck immer noch ein würdiges Einkommen einstreifen könne: "to niche down", hörte ich einen Youtuber beraten; Nischen als Verb! Als ein Prozess produktiver Selbstbeschränkung; des Einhegens eines unüberschaubaren Feldes; des Zuspitzens eines Themas auf eine griffige Formel.

Doch in spätkapitalistischen Zuständen muss das in die alles überwölbende Marktmetapher eingebaut werden, die ja den potentiell weltweiten Markt rekurriert. In diesem prekären Zusammenhang wird aber auch die Goldgräberstimmung, die das Internet immer noch aufkommen lässt, gut eingefangen. Und so sitzen wir Blogger, Newsletter-Schreiber und Meme-Artisten in virtuellen Häusernischen am Rande des Verkehrs mit unseren Bauchläden voller content.